Hildegard Hammerschmidt-Hummel, “Shakespeare
ist Shakespeare. Von der vergeblichen Suche nach einem anderen Kandidaten -
Neue Debatte nach Veröffentlichung des Buches von Sobran”,
Die
Tagespost (29. April 2003):*
Am 10. Juni 1853 suchte die amerikanische Lehrerin Delia Bacon
den schottischen Philosophen Thomas Carlyle in seiner Londoner Wohnung auf,
um ihm zu eröffnen, der Urheber der Shakespeareschen Dramen sei in Wirklichkeit
Francis Bacon. Dem anwesenden Bacon-Editor James Spedding verschlug es die Sprache,
Carlyle aber verlor die Fassung: ”Wollen Sie sagen, daß Ben Jonson,
und Heminges und Condell [Shakespeares engste Freunde und Kollegen] und alle
nachfolgenden Shakespeare-Forscher bezüglich der Autorschaft falsch liegen
und Sie es richtigstellen werden?” ”Mr Carlyle”,
erwiderte Bacon völlig unbeirrt, ”ich muß Ihnen sagen, daß
Sie nicht wissen, was wirklich in den Dramen steckt, wenn Sie glauben,
daß dieser Tölpel (‘that booby’) sie geschrieben hat.”
Was war geschehen? Die Autodidaktin Delia Bacon, Tochter eines
gescheiterten Pioniers aus Ohio, die nur relativ kurze Zeit eine Schule besuchen
konnte, hatte William Shakespeare aus Stratford-upon-Avon, dem schon zu seinen
Lebzeiten kultische Verehrung zuteil geworden war, wegen seiner einfachen Herkunft
und - wie sie meinte - mangelnden Bildung vom Dichterthron gestoßen. Die
von puritanischen Bilderstürmern im 17. Jahrhundert demolierte Grabbüste
in der Kirche zu Stratford, die wegen der stark gekürzten Nase ihre einstige
Ausstrahlung eingebüßt hatte, schien ihr negatives Diktum zu bestätigen.
Zügig und zielsicher suchte die Amerikanerin nach einem ‘geeigneteren’
Kandidaten, einem Autor von nobler Natur und Abkunft, poetisch-philosophischem
Genius und umfassendem Wissenshorizont, und stieß auf Sir Francis Bacon.
Das war die Geburtsstunde jener Häresie, die sich bis heute, sei es auch
mit wechselnden Gesichtern, erhalten hat.
Delia Bacon war indessen entgangen, daß ihr Kandidat in keiner Weise ihren
hohen Ansprüchen genügte. Denn der hochbegabte junge Bacon war extravagant,
hoch verschuldet, liebte den Luxus und die Verschwendung und hielt sich zum
großen Ärger seiner Mutter einen Bettgenossen. Sein Vater stammte
aus bescheidenen Verhältnissen, gelangte jedoch als Schwager des gleichfalls
sozial aufgestiegenen königlichen Beraters William Cecil, später Lord
Burghley, in hohe öffentliche Ämter. Im Hochverratsprozeß gegen
den Grafen von Essex (1601) lieferte Bacon seinen einstigen Freund und Gönner
ans Messer und war dessen größtem Feind Robert Cecil, der aus dem
großen politischen Machtkampf als Sieger hervorging, willfährig.
Anschließend machte Bacon die große Karriere. Als Lordkanzler von
England (1618) wurde er wegen Bestechlichkeit angeklagt und verurteilt, verlor
alle Ämter und saß vorübergehend im Tower ein. In seinem Testament
enterbte er seine Frau, die er als Dreizehnjährige im Alter von 45 Jahren
wegen ihres Geldes geheiratet hatte. Delia Bacon aber sah in ihm den edlen Schöpfer
von Shakespeares Werken. Eine ganze Nacht lang ließ sie sich in der Stratforder
Kirche einschließen mit der Absicht, Shakespeares Grab zu öffnen,
in dem sie Dokumente zur Unterstützung ihrer These vermutete. Ihr Unterfangen
aber scheiterte kläglich. Besessen von ihrer aberwitzigen Idee, Bacon sei
Shakespeare und sie selbst trage nicht nur dessen Namen, sondern auch dessen
Gene, starb die Begründerin der Bacon-These in geistiger Umnachtung. Doch
die Geister, die sie gerufen hatte, ließen sich - trotz heftigen Protests
durch Vertreter der Fachwelt - nicht mehr bannen.
Im November 1918 hinterlegte ein Lehrer namens Looney im Britischen Museum einen
Umschlag mit einer in seinen Augen weltbewegenden Entdeckung: Nicht William
Shakespeare, sondern Edward de Vere, der 17. Graf von Oxford, sei der wahre
Verfasser der Shakespeareschen Dramen. Die Oxford-These, dargelegt in Looneys
Buch Shakespeare Identified (1920), wurde von der orthodoxen Shakespeare-Forschung
zwar rasch ad acta gelegt, jedoch gegen Ende des 20. Jahrhunderts durch Walter
Klier und Joseph Sobran noch einmal vehement und breitenwirksam wiederbelebt.
In Genannt Shakespeare (2002 - Originalausgabe: Alias Shakespeare, 1997) beansprucht
der amerikanische Journalist Sobran, die Oxford-These ”um ihre Auswüchse
bereinigt”, ”ein völlig neues Verständnis der Dramen und
Gedichte” ermöglicht und endgültig bewiesen zu haben, kein anderer
als Edward de Vere habe Shakespeares Werke verfaßt und ‚Mr Shakespeare’
aus der Provinz nur als Strohmann benutzt, um seinen eigenen edlen Namen nicht
mit öffentlich gespielten Theaterstücken in Verbindung zu bringen.
Historisch überliefert ist jedoch, daß sich Oxford bereits in den
80er Jahren des 16. Jahrhunderts als Komödienautor betätigte und seine
eigene Theatertruppe hatte: die Oxford’s Men. Seine Schauspieler, die
- soweit bekannt - nur einmal bei Hofe auftraten, bespielten die Theater der
englischen Provinz. Schon Anfang der 90er Jahre, als William Shakespeare und
Richard Burbage sich anschickten, dem elisabethanischen Theater unvergleichlichen
Glanz zu verleihen, spielten sie keine nennenswerte Rolle mehr. Während
Oxfords Truppe 1602 aufhörte zu existieren, wurde die berühmte Schauspieltruppe
Shakespeares 1603 unter den Schutz des neuen Königs (Jakobs I.) gestellt
und durfte sich fortan The King’s Men nennen. In seiner Bestandsaufnahme
der englischen Literatur Palladis Tamia (1598) erwähnt Francis Meres die
Lustspiele des Grafen von Oxford zwar löblich, erinnert sich aber an keine
Titel. Die bis dahin erschienenen Dramen William Shakespeares hingegen listet
er sorgfältig auf und stellt sie mit den Werken der großen Autoren
der Antike auf eine Stufe.
Das bislang von den Anhängern der Oxford-These ungelöste Problem des
frühen Ablebens des Edward de Vere im Jahre 1604, als rund 10 Dramen Shakespeares
noch gar nicht geschrieben waren, glaubt Sobran mit einigen Kniffen lösen
zu können: Es gebe, so versichert er, ”nach 1604” Hinweise
darauf, daß auch ”Shakespeare schon das Zeitliche gesegnet”
habe. Damit will Sobran die etablierte Shakespeare-Forschung hinsichtlich der
Datierung der späteren Werke gleichfalls in Schwierigkeiten bringen. Daß
Shakespeare im Januar 1616 mit Hilfe eines Notars und vor mehreren Zeugen sein
Testament gemacht und es im März 1616 noch einmal überarbeitet hat
und daß sein Tod am 23. April 1616 im Stratforder Sterberegister und inschriftlich
auf der Marmortafel unter der Grabbüste bestens dokumentiert ist, stört
ihn offenbar nicht. Als Beleg für seine Behauptung zitiert Sobran aus der
Leseradresse in Troilus und Cressida (1609): ”er [der Autor] werde bald
‘dahin’ sein ‘und seine Komödien nicht mehr erhältlich’”
(S. 168). Es heißt jedoch: ”Wenn er [der Autor] gegangen ist und
seine Komödien ausverkauft sind, werdet ihr euch um sie reißen”
(”when hee [the author] is gone, and his Commedies out of sale, you will
scramble for them”).
Alle Shakespeare-Stücke, so Sobran weiter, hätten bereits vor 1604
vollendet vorgelegen. Und: In den Dramen gebe es keinerlei Referenzen auf zeitgenössische
Fakten bzw. Ereignisse aus der Zeit nach 1604. Diese Aussage ist leicht widerlegbar.
So wird etwa in König Lear sehr konkret auf eine kürzliche Sonnen-
und Mondfinsternis Bezug genommen. Diese auch damals als sensationell empfundenen
Naturphänomene ereigneten sich im September und Oktober des Jahres 1605.
Shakespeares großes Meisterwerk kann also nicht vor 1604 entstanden sein.
Belegt ist, daß König Lear als neues Stück am 2. Weihnachtstag
1606 bei Hofe in Whitehall aufgeführt wurde. In Macbeth finden sich nicht
nur klare Hinweise auf die Pulververschwörung (1605) und auf den Hochverratsprozeß
gegen den Jesuiten-Superior Henry Garnett (1606) sowie dessen Technik der ‘Equivokation’
(der sprachlichen Verschleierung von Aussagen, um das Ausforschen von Gedanken
zu verhindern), sondern auch Anspielungen auf die verheerenden Konsequenzen
der niedrigen Weizenpreise des Jahres 1606 für die kleinen Bauern. Die
Anregung zum Sturm, Allerheiligen 1611 bei Hofe aufgeführt, erhielt Shakespeare
von der großen Schiffskatastrophe bei den Bermudas (1609). Die Nachricht
erreichte London in einem Brief vom 15. Juli 1610 und verbreitete sich wie ein
Lauffeuer. Noch im selben Jahr erschienen Discovery of the Bermudas und der
Report der Virginia Company - beide mit ausführlichen Schilderungen des
Unglücks. Sobran aber behauptet, Shakespeare (den er zu diesem Zeitpunkt
eigentlich schon lange tot wähnt) habe von der Schiffskatastrophe gar nichts
wissen können, weil der Brief vom 15. Juli 1610 erst 1625 gedruckt worden
sei.
Der ursprünglich reich begüterte gräfliche Lebemann Edward de
Vere war gegen Ende seines Lebens krank und verarmt und wurde von Elisabeth
I. ausgehalten. In den 90er Jahren des 16. Jahrhunderts, als Shakespeare einen
rasanten Aufstieg als Autor erlebte und zum Publikumsmagneten des noch jungen
elisabethanischen Theaters wurde, hatte der Graf von Oxford in Italien sein
großes Vermögen verpraßt. Oxford war einst Mündel im Haushalt
William Cecils gewesen und zur Ehe mit dessen Tochter wohl gezwungen worden.
Auch der Graf von Southampton, Shakespeares Patron und Freund, war später
Mündel des königlichen Beraters und wurde gleichfalls massiv von ihm
bedrängt, seine Enkelin zu ehelichen. Wegen seines Ungehorsams mußte
Southampton an seinen Ziehvater eine hohe Geldstrafe zahlen.
Im Vorwort vermittelt Sobran interessante Einblicke in die Welt der Anti-Stratfordianer
und ihre Art, miteinander umzugehen. Einem Baconianer aus seinem Bekanntenkreis
sei wegen seiner ”ketzerischen Ansichten” sogar ”der Zugang
zu einer Internetgruppe von Oxfordianern” verweigert worden - mit der
Begründung: ”Baconianer und Hunde unerwünscht!” Sobrans
Buch über Oxford (nicht Shakespeare) verdankt seine Entstehung - wie es
scheint - einer denkwürdigen Begebenheit, über die der Autor freimütig
Auskunft gibt: ”Eines Tages trat eine reiche alte Dame an mich heran ...
und lud mich in ihr Haus in Mississippi ein. ... Ich fand sie reizend, wenn
auch recht wirr. Schließlich bot sie mir eine schwindelerregende Summe
- von einer Million Dollar war die Rede - für ein Buch, in dem ich, notfalls
in Prosa, nachweisen sollte, daß Edward de Vere, der 17. Graf von Oxford,
... der wahre Verfasser der Shakespeare-Dramen ... war”. Da Sobran genau
dieses Buch später geschrieben hat, fällt es schwer, seiner Beteuerung
Glauben zu schenken, er habe das lukrative Anerbieten von sich gewiesen. Die
Oxford-These entbehrt - wie alle anderen Spekukationen dieser Art - jeglicher
wissenschaftlicher Fundierung und steht im offenen Widerspruch zu den historischen
Fakten.
Es steht zu befürchten, daß schon bald ein weiterer Verfasserschaftskandidat
wieder auftaucht: der Dramatiker Christopher Marlowe. Der verstorbene Erfinder
der Marlowe-These, Millionär Calvin Hoffmann, zuvor Presseagent am Broadway
in New York, hatte 1955 den reißerischen Titel The Murder of the Man Who
Was ‘Shakespeare’ publiziert und darin behauptet, aufgrund textlicher
Entsprechungen von Marlowe und Shakespeare müsse ersterer der Urheber der
berühmten Dramen und Sonette sein. Richtig ist, daß es bei Shakespeare,
der ab 1592 als Autor in London nachgewiesen ist und rasch für Furore sorgte,
echoartige Anspielungen auf Marlowe gibt, die lediglich belegen, daß sich
Shakespeare mit Marlowes genialem Werk beschäftigt hat. Zur Untermauerung
seiner These führt Hoffmann an, der Regierungsspion Marlowe sei 1593 bei
der Messerstecherei in einem Wirtshaus gar nicht ums Leben gekommen, sondern
habe mit Hilfe des englischen Geheimdienstes nach Italien fliehen können,
dort Shakespeares Werke geschrieben und sich seines Namens bedient. Das ist
schon deshalb nicht möglich, als beide, Marlowe und Shakespeare, 1592 als
Dramatiker in London wirkten und mit ganz unterschiedlichen Stücken Aufsehen
erregten. Vor seinem Tod traf Hoffmann wirksame Vorkehrungen für das Überleben
seiner Theorie und die unablässige Suche, sie zu beweisen. Wer den Beleg
erbringt, daß Marlowe Shakespeare war, erhält das von Hoffmann als
Preisgeld ausgesetzte Millionenvermögen. Mit Shakespeare bleibt hier zu
fragen: ”Wer ist so fest, den nichts verführen kann?”
* Von der Tagespost leicht gekürzt.