Hildegard Hammerschmidt-Hummel, “Nicht
der Autor, nur noch der Text zählt. Über die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft
und ihren eigentümlichen Umgang mit dem Dichter”, Die Tagespost
(15. Mai 2001)
Gastgeberin der diesjährigen ShakespeareTage unter dem Leitwort: “Shakespeare:
Vom Globe zur Globalisierung” war die Stadt Bremen, die mit Schaufensterschmuck
und Straßentheaterszenen der Bremer Shakespeare Company für das Ereignis
bestens gerüstet war. In seiner Begrüßungsansprache im vollbesetzten
Rathaussaal ging Präsident Dieter Mehl auch auf die Anfänger der altehrwürdigen,
1864 gegründeten Gesellschaft ein. Robert Weimann (University of California,
Irvine), ehemals Präsident der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft (Ost),
hielt den Eröffnungsvortrag und unterstrich die große Bedeutung der
“Performanz als grenzüberschreitendes Spiel in Shakespeares Theater”.
Debüt für Assistenten
Die Globalisierung der Shakespeareschen Dramen wurde auf der Bremer Tagung mit
Beispielen aus Nord- und Mittelamerika, Nordafrika und dem Fernen Osten (Japan,
Korea und Malaysia) veranschaulicht. Jean Howard (Columbia University) erkundete
anhand von weniger bekannten elisabethanischen Stücken, aber mit ständigem
Rückbezug auf die Werke Shakespeares, das reizvolle Thema “Fenreisen”.
Phyllis Rackin (University of Pennsylvania) befasste sich mit den globalen merkantilen
Einflüssen in Shakespeareschen Dramen - beispielsweise mit den in “Merchant
of Venice” wiedergegebenen Handelsstrukturen und -praktiken Venedigs,
die man auch auf London beziehen müsse. Heinz Autor (Universität
Köln) berichtete spannend über bemerkenswerte postkoloniale kanadische
Antworten auf Shakespeare und Klaus Theweleit (Universität Freiburg)
fesselte das Publikum mit seinem Referat “Shakespeares Sturm, Amerika
und der englische Geheimdienst”. Hiroshi Ozawa (Kwansei Gakuin University)
entführte die Teilnehmer in das Japan des Fin-de-Siècle und die
damalige japanische Shakespeare-Forschung. Chec Seng Lim (University of Malaya),
ein routinierter Funktionär internationaler Shakespeare-Kongresse, zeichnete
ein realistisches Bild von den schwierigen Bedingungen, denen das Studium
Shakespeares in seinem Land in der Vergangenheit ausgesetzt war. Hinter dem
Neugier erregenden Beitrag “Was Hamlet a Man or a Woman?” von
Catherine Belsey (Cardiff University, England) verbarg sich ein Diavortrag
mit einer Fülle von englischen und deutschen Hamlet-Illustrationen,
der den Gegenstand der Tagung und des Vortrags aber nur sehr marginal berührte.
Als Antwort auf die im Titel gestellte Frage wurden lediglich Bilder
der französischen Schauspielerin Sarah Bernhardt in der Rolle
des Hamlet eingeblendet. Der Festvortrag des großen englischen Theaterwissenschaftlers
und Shakespeare-Forschers John Russel Brown über “Asian Theatres
and European Shakespeares” markierte den krönenden Abschluss
der Bremer Shakespeare-Tage. Am Rande der Tagung gab es jedoch auch Kritik.
Nicht wenige Teilnehmer sahen sich in der Rolle von Konsumenten, denen
ein weltweiter Wissenschaftstourismus dicht aufeinander folgende Vorträge
bescherte, die anscheinend andernorts schon mehrfach gehalten worden waren.
Hinzu kam, dass es keine Möglichkeit gab, Fragen zu stellen und die Themen
in Diskussionen zu vertiefen. Leider muss auch festgestellt werden, dass
man zu der großen Jahrestagung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft
anstelle von bedeutenden und erfahrenen deutschsprachigen Shakespeare-Forschem,
die - auch mit Blick auf die Lehrerfortbildung - wichtige Beiträge und
großes Sachwissen hätten einbringen können, junge Assistenten
zu Vorträgen eingeladen hatte, die offenbar dort ihr Debüt gaben:
Tobias Döring (“Egypt, Tobago”: Shakespeare-Tropen in
der Karibik”), Abier Bushnaq (“In the Eye of the Beholder: Shakespeare
in unenglischer Manier auf ägyptischen Bühnen”) und Kamila
Shamsie (“Shakespeare in my Garden: Reading Measure for Measure in a Pakistani
Context”). Grundsätzlich ist es natürlich zu begrüßen,
wenn auch Nachwuchswissenschaftlern eine solche Chance gegeben wird.
Auf ihre Kosten kamen die Teilnehmer durch die theatralischen
Darbietungen des Beiprogramms. Die Bremer Shakespeare Company mit Norbert
Kentrup in der Titelrolle erntete Beifall für seine Timon-Inszenierung,
und das koreanische Ballett-Ensemble “Mr. Tae-Sok Oh and Mokwha Company,
Seoul” begeisterte vor allem das junge Publikum mit einer spritzigen fernöstlichen
Version von “Romeo und Julia”. Ein Hochgenuss war die hervorragende
Einstudierung von Shakespeares “Was Ihr Wollt” im Großen Haus
des Stadttheaters Bremerhaven, die Wolfgang Hofmann besorgte. Es ist zu begrüßen,
dass das Shakespeare-Jahrbuch 2001 auch diesmal pünktlich zur
Tagung vorlag. Für Verwunderung aber sorgten Umschlag und einleitender
Kommentar. In letzterem wurde mitgeteilt, in diesem Jahrbuch gehe es “um
konsequente, bewusste und gezielte Umdeutungen von Shakespeares Werken
oder auch seiner Lebensdaten” (“Shakespeare-Metamorphosen”).
Auf dem Umschlag befinden sich stark entstellende Variationen
des Chandos-Porträts von Shakespeare, Variationen, die - bis zur materiellen
Auflösung des Kopfes vorangetrieben - von einigen Mitgliedern als bewusste
Personenzerstörung des Autors verstanden wurden. Bei dem Chandos-Bildnis
handelt es sich um das älteste Porträt Shakespeares, für
das er als jüngerer Mann (circa zehn bis fünfzehn Jahre vor der Entstehung
des Flower-Porträts aus dem Jahre 1609) Modell gesessen haben muss. Das
in der Londoner National Portrait Gallery aufbewahrte Original ist eines
der wertvollsten englischen “Nationalheiligtümer”.
Das Thema des Shakespeare-Jahrbuchs 2003, so lasen verdutzte Teilnehmer unter
“Call for Papers” des weiteren, würde in dieselbe Richtung
gehen: Eingeworben wurden unter anderem Referate, die den Autor Shakespeare
zerstören (“the unmaking of Shakespeare”), indem sie andere
Kandidaten als Urheber seines Werks unterstützen (“by backing
other candidates as authors of his works”), und auch solche, die die Autorschaft
des Dichters im Gefolge von dekonstruktivistischen Theorien “neu
interpretieren”, die den Tod des Autors feiem (“the reinterpretation
of Shakespeare’s authorship in the wake von deconstructive theories
extolling the death of the author”).
Ältere Mitglieder der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft
(West) mochten sich in diese Situation wehmütig an die Ära der Präsidentschaft
von Rudolf Stamm (Basel) erinnern, in der sich der Präsident und seine
Vorstandskollegen (darunter Wolfgang Clemen, München, Werner Habicht, Würzburg,
Ernst Leisi, Zürich, Horst Oppel, Marburg, Ernst Theodor Sehrt, Göttingen,
und Ulrich Suerbaum, Bochum) - so wie ursprünglich die Gründerväter
der Gesellschaft - der Pflege des Werkes und der Person Shakespeares
verpflichtet sahen. Der damalige Vorstand repräsentierte unterschiedliche
Schulen und Forschungseinrichtungen. Heute gibt in der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft
fast ausschließlich die (weit verzweigte) Münchener Schule Wolfgang
Clemens den Ton an, für die der Text im Mittelpunkt steht und die sich
mit dem historisch-biographischen Forschungsansatz schwer tut. Erstaunlicherweise
aber findet die fiktionale Behandlung von Shakespeares Leben, in der
der Dichter als Person zumeist stark abgewertet wird, offensichtlich die
uneingeschränkte Zustimmung des Vorstands.
Ein maßloser Dichter?
Dies zeigt der 1999 auf der Herbsttagung der Gesellschaft in
Bochum gehaltene und im Shakespeare-Jahrbuch 2001 abgedruckte Vortrag Enno
Ruges (“The Disappearing Act: Zwei funktionale Shakespeare-Biografien
von Robert Nye”) über “Mrs. Shakespeare” (1993)
und “The Late Mr. Shakespeare” (1998) von Robert Nye. Nye stellt
den großen englischen Nationaldichter als “dirty devil”
dar, der seine Ehefrau Anne Shakespeare während eines Besuchs in London
- wie Ruge ausführt - “in die Geheimnisse der Sodomie”
(S. 56) einführt.
Im Hinblick auf die Schwierigkeit, dass junge Leser den Unterschied zwischen
der fiktiven und der realen Biographie Shakespeares nicht erkennen können,
fragt man sich, warum ein Roman, in dem William Shakespeare als Teufel mit “sexueller
Maßlosigkeit” (S. 57) dargestellt wird, auf einer Shakespeare-Tagung
so eingehend behandelt wird und warum dieser Beitrag in voller Länge
im Shakespeare-Jahrbuch 2001 abgedruckt ist. Ruge - so stellt sich bei näherer
Betrachtung heraus - nahm diese Gelegenheit wahr, über alle (auch
die neueren und neuesten) Erkenntnisse mit Bezug auf die reale Existenz William
Shakespeares äußerst abschätzig zu urteilen.
Quellenlage in der Diskussion
Er resümiert: Wie Nyes Erzähler Pickleherring
müssten auch wir uns mit einer “Rhapsodie von Lumpen” (“a
rhapsody of rags”) zufriedengeben, die man “von verschiedenen
Misthaufen zusammengetragen” habe. (,,gathered together from several
dung-hills”). Und er fügt hinzu: “Neue Fakten, die unser Shakespeare-Bild
verändern oder bestätigen könnten, ... werden wohl nicht
mehr auftauchen” (Shakespeare-Jahrbuch 2001, S. 65).
Diese Aussage über die Quellenlage der Shakespeare-Forschung der Zukunft
ist in höchstem Maße unwissenschaftlich und verrät das Wunschdenken
des Verfassers, dem hier allerdings dringend angeraten sei nachzuholen, was
er bisher versäumt hat: das gründliche Studium der bekannten und neu
erschlossenen historischen Quellen zur Biographie William Shakespeares
und seiner Zeit.
Als der Präsident in der Mitgliederversammlung der
Shakespeare-Gesellschaft am 29. April 2001 unter anderem gebeten wurde,
er möge im Hinblick auf die irrige, immer weiter um sich greifenden These,
der Earl of Oxford habe die Werke William Shakespeares geschrieben, auf der
Weimarer Shakespeare-Tagung 2002 klare Worte zur Verfasserschaft Shakespeares
sprechen oder sprechen lassen, antwortete zunächst der Vizepräsident
und meinte, es sei nicht nötig, den Oxfordianern zu widersprechen,
denn ihre These sei lächerlich. Er könne sich nicht vorstellen, dass
sie in den Medien und in der Öffentlichkeit Akzeptanz finde.
Der Präsident aber gab danach dem Plenum noch zur
Kenntnis, ihm sei es “völlig Wurscht”, wer Shakespeares Werke
verfasst habe. Denn für ihn zähle nur der Text. Den Oxfordianern
müssten - ob solcher Worte - die Ohren geklungen haben. Denn der ranghöchste
Vertreter der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, die seit 1864 alljährlich
zur Zeit von William Shakespeares Geburtstag (23. April) tagt, um sich mit Leben
und Werk des großen englischen Dramatikers aus Stratford-upon-Avon
zu befassen, hatte hier erstmals, wenngleich indirekt, zu verstehen
gegeben, dass er die Verfasserschaft Shakespeares für nicht gesichert
hält, obwohl er es angesichts des historischen Quellenlage besser
wissen müsste. Man darf mit Spannung erwarten, wie sich die Mitglieder
auf der Shakespeare-Tagung 2002 in Weimar in dieser Frage verhalten werden.”
(Die Tagespost, Dienstag, 15. Mai 2001) -
Foto: Kamp
Umschlag des Shakespeare-Jahrbuchs 2001 (“Metamorphosen
des Chandos-Porträts von Shakespeare”). Das in der National Portrait
Gallery in London aufbewahrte Chandos-Porträt. Es ist das älteste
authentische und lebensgetreue Bildnis des Dichters, das neuesten fachwissenschaftlichen
Erkenntnissen zufolge zwischen 1594 und 1599 entstand und zu den kulturellen
Schätzen Englands gehört. Hier wird es verzerrt und fratzenhaft entstellt.
Foto: Kamp
*****