H. Hammerschmidt-Hummel - Homepage
Aktualisiert: 01. Oktober 2007 / updated: 01 October 2007


b. Zeitungsartikel

 

Hildegard Hammerschmidt-Hummel, “Shakespeare ist Shakespeare. Von der vergeblichen Suche nach einem anderen Kandidaten - Neue Debatte nach Veröffentlichung des Buches von Sobran”, Die Tagespost (29. April 2003):*

Am 10. Juni 1853 suchte die amerikanische Lehrerin Delia Bacon den schottischen Philosophen Thomas Carlyle in seiner Londoner Wohnung auf, um ihm zu eröffnen, der Urheber der Shakespeareschen Dramen sei in Wirklichkeit Francis Bacon. Dem anwesenden Bacon-Editor James Spedding verschlug es die Sprache, Carlyle aber verlor die Fassung: ”Wollen Sie sagen, daß Ben Jonson, und Heminges und Condell [Shakespeares engste Freunde und Kollegen] und alle nachfolgenden Shakespeare-Forscher bezüglich der Autorschaft falsch liegen und Sie es richtigstellen werden?” ”Mr Carlyle”, erwiderte Bacon völlig unbeirrt, ”ich muß Ihnen sagen, daß Sie nicht wissen, was wirklich in den Dramen steckt, wenn Sie glauben, daß dieser Tölpel (‘that booby’) sie geschrieben hat.”

Was war geschehen? Die Autodidaktin Delia Bacon, Tochter eines gescheiterten Pioniers aus Ohio, die nur relativ kurze Zeit eine Schule besuchen konnte, hatte William Shakespeare aus Stratford-upon-Avon, dem schon zu seinen Lebzeiten kultische Verehrung zuteil geworden war, wegen seiner einfachen Herkunft und - wie sie meinte - mangelnden Bildung vom Dichterthron gestoßen. Die von puritanischen Bilderstürmern im 17. Jahrhundert demolierte Grabbüste in der Kirche zu Stratford, die wegen der stark gekürzten Nase ihre einstige Ausstrahlung eingebüßt hatte, schien ihr negatives Diktum zu bestätigen. Zügig und zielsicher suchte die Amerikanerin nach einem ‘geeigneteren’ Kandidaten, einem Autor von nobler Natur und Abkunft, poetisch-philosophischem Genius und umfassendem Wissenshorizont, und stieß auf Sir Francis Bacon. Das war die Geburtsstunde jener Häresie, die sich bis heute, sei es auch mit wechselnden Gesichtern, erhalten hat.

Delia Bacon war indessen entgangen, daß ihr Kandidat in keiner Weise ihren hohen Ansprüchen genügte. Denn der hochbegabte junge Bacon war extravagant, hoch verschuldet, liebte den Luxus und die Verschwendung und hielt sich zum großen Ärger seiner Mutter einen Bettgenossen. Sein Vater stammte aus bescheidenen Verhältnissen, gelangte jedoch als Schwager des gleichfalls sozial aufgestiegenen königlichen Beraters William Cecil, später Lord Burghley, in hohe öffentliche Ämter. Im Hochverratsprozeß gegen den Grafen von Essex (1601) lieferte Bacon seinen einstigen Freund und Gönner ans Messer und war dessen größtem Feind Robert Cecil, der aus dem großen politischen Machtkampf als Sieger hervorging, willfährig. Anschließend machte Bacon die große Karriere. Als Lordkanzler von England (1618) wurde er wegen Bestechlichkeit angeklagt und verurteilt, verlor alle Ämter und saß vorübergehend im Tower ein. In seinem Testament enterbte er seine Frau, die er als Dreizehnjährige im Alter von 45 Jahren wegen ihres Geldes geheiratet hatte. Delia Bacon aber sah in ihm den edlen Schöpfer von Shakespeares Werken. Eine ganze Nacht lang ließ sie sich in der Stratforder Kirche einschließen mit der Absicht, Shakespeares Grab zu öffnen, in dem sie Dokumente zur Unterstützung ihrer These vermutete. Ihr Unterfangen aber scheiterte kläglich. Besessen von ihrer aberwitzigen Idee, Bacon sei Shakespeare und sie selbst trage nicht nur dessen Namen, sondern auch dessen Gene, starb die Begründerin der Bacon-These in geistiger Umnachtung. Doch die Geister, die sie gerufen hatte, ließen sich - trotz heftigen Protests durch Vertreter der Fachwelt – nicht mehr bannen.

Im November 1918 hinterlegte ein Lehrer namens Looney im Britischen Museum einen Umschlag mit einer in seinen Augen weltbewegenden Entdeckung: Nicht William Shakespeare, sondern Edward de Vere, der 17. Graf von Oxford, sei der wahre Verfasser der Shakespeareschen Dramen. Die Oxford-These, dargelegt in Looneys Buch Shakespeare Identified (1920), wurde von der orthodoxen Shakespeare-Forschung zwar rasch ad acta gelegt, jedoch gegen Ende des 20. Jahrhunderts durch Walter Klier und Joseph Sobran noch einmal vehement und breitenwirksam wiederbelebt. In Genannt Shakespeare (2002 - Originalausgabe: Alias Shakespeare, 1997) beansprucht der amerikanische Journalist Sobran, die Oxford-These ”um ihre Auswüchse bereinigt”, ”ein völlig neues Verständnis der Dramen und Gedichte” ermöglicht und endgültig bewiesen zu haben, kein anderer als Edward de Vere habe Shakespeares Werke verfaßt und ‚Mr Shakespeare’ aus der Provinz nur als Strohmann benutzt, um seinen eigenen edlen Namen nicht mit öffentlich gespielten Theaterstücken in Verbindung zu bringen. Historisch überliefert ist jedoch, daß sich Oxford bereits in den 80er Jahren des 16. Jahrhunderts als Komödienautor betätigte und seine eigene Theatertruppe hatte: die Oxford’s Men. Seine Schauspieler, die - soweit bekannt - nur einmal bei Hofe auftraten, bespielten die Theater der englischen Provinz. Schon Anfang der 90er Jahre, als William Shakespeare und Richard Burbage sich anschickten, dem elisabethanischen Theater unvergleichlichen Glanz zu verleihen, spielten sie keine nennenswerte Rolle mehr. Während Oxfords Truppe 1602 aufhörte zu existieren, wurde die berühmte Schauspieltruppe Shakespeares 1603 unter den Schutz des neuen Königs (Jakobs I.) gestellt und durfte sich fortan The King’s Men nennen. In seiner Bestandsaufnahme der englischen Literatur Palladis Tamia (1598) erwähnt Francis Meres die Lustspiele des Grafen von Oxford zwar löblich, erinnert sich aber an keine Titel. Die bis dahin erschienenen Dramen William Shakespeares hingegen listet er sorgfältig auf und stellt sie mit den Werken der großen Autoren der Antike auf eine Stufe.

Das bislang von den Anhängern der Oxford-These ungelöste Problem des frühen Ablebens des Edward de Vere im Jahre 1604, als rund 10 Dramen Shakespeares noch gar nicht geschrieben waren, glaubt Sobran mit einigen Kniffen lösen zu können: Es gebe, so versichert er, ”nach 1604” Hinweise darauf, daß auch ”Shakespeare schon das Zeitliche gesegnet” habe. Damit will Sobran die etablierte Shakespeare-Forschung hinsichtlich der Datierung der späteren Werke gleichfalls in Schwierigkeiten bringen. Daß Shakespeare im Januar 1616 mit Hilfe eines Notars und vor mehreren Zeugen sein Testament gemacht und es im März 1616 noch einmal überarbeitet hat und daß sein Tod am 23. April 1616 im Stratforder Sterberegister und inschriftlich auf der Marmortafel unter der Grabbüste bestens dokumentiert ist, stört ihn offenbar nicht. Als Beleg für seine Behauptung zitiert Sobran aus der Leseradresse in Troilus und Cressida (1609): ”er [der Autor] werde bald ‘dahin’ sein ‘und seine Komödien nicht mehr erhältlich’” (S. 168). Es heißt jedoch: ”Wenn er [der Autor] gegangen ist und seine Komödien ausverkauft sind, werdet ihr euch um sie reißen” (”when hee [the author] is gone, and his Commedies out of sale, you will scramble for them”).

Alle Shakespeare-Stücke, so Sobran weiter, hätten bereits vor 1604 vollendet vorgelegen. Und: In den Dramen gebe es keinerlei Referenzen auf zeitgenössische Fakten bzw. Ereignisse aus der Zeit nach 1604. Diese Aussage ist leicht widerlegbar. So wird etwa in König Lear sehr konkret auf eine kürzliche Sonnen- und Mondfinsternis Bezug genommen. Diese auch damals als sensationell empfundenen Naturphänomene ereigneten sich im September und Oktober des Jahres 1605. Shakespeares großes Meisterwerk kann also nicht vor 1604 entstanden sein. Belegt ist, daß König Lear als neues Stück am 2. Weihnachtstag 1606 bei Hofe in Whitehall aufgeführt wurde. In Macbeth finden sich nicht nur klare Hinweise auf die Pulververschwörung (1605) und auf den Hochverratsprozeß gegen den Jesuiten-Superior Henry Garnett (1606) sowie dessen Technik der ‘Equivokation’ (der sprachlichen Verschleierung von Aussagen, um das Ausforschen von Gedanken zu verhindern), sondern auch Anspielungen auf die verheerenden Konsequenzen der niedrigen Weizenpreise des Jahres 1606 für die kleinen Bauern. Die Anregung zum Sturm, Allerheiligen 1611 bei Hofe aufgeführt, erhielt Shakespeare von der großen Schiffskatastrophe bei den Bermudas (1609). Die Nachricht erreichte London in einem Brief vom 15. Juli 1610 und verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Noch im selben Jahr erschienen Discovery of the Bermudas und der Report der Virginia Company - beide mit ausführlichen Schilderungen des Unglücks. Sobran aber behauptet, Shakespeare (den er zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon lange tot wähnt) habe von der Schiffskatastrophe gar nichts wissen können, weil der Brief vom 15. Juli 1610 erst 1625 gedruckt worden sei.

Der ursprünglich reich begüterte gräfliche Lebemann Edward de Vere war gegen Ende seines Lebens krank und verarmt und wurde von Elisabeth I. ausgehalten. In den 90er Jahren des 16. Jahrhunderts, als Shakespeare einen rasanten Aufstieg als Autor erlebte und zum Publikumsmagneten des noch jungen elisabethanischen Theaters wurde, hatte der Graf von Oxford in Italien sein großes Vermögen verpraßt. Oxford war einst Mündel im Haushalt William Cecils gewesen und zur Ehe mit dessen Tochter wohl gezwungen worden. Auch der Graf von Southampton, Shakespeares Patron und Freund, war später Mündel des königlichen Beraters und wurde gleichfalls massiv von ihm bedrängt, seine Enkelin zu ehelichen. Wegen seines Ungehorsams mußte Southampton an seinen Ziehvater eine hohe Geldstrafe zahlen.

Im Vorwort vermittelt Sobran interessante Einblicke in die Welt der Anti-Stratfordianer und ihre Art, miteinander umzugehen. Einem Baconianer aus seinem Bekanntenkreis sei wegen seiner ”ketzerischen Ansichten” sogar ”der Zugang zu einer Internetgruppe von Oxfordianern” verweigert worden - mit der Begründung: ”Baconianer und Hunde unerwünscht!” Sobrans Buch über Oxford (nicht Shakespeare) verdankt seine Entstehung - wie es scheint - einer denkwürdigen Begebenheit, über die der Autor freimütig Auskunft gibt: ”Eines Tages trat eine reiche alte Dame an mich heran ... und lud mich in ihr Haus in Mississippi ein. ... Ich fand sie reizend, wenn auch recht wirr. Schließlich bot sie mir eine schwindelerregende Summe - von einer Million Dollar war die Rede - für ein Buch, in dem ich, notfalls in Prosa, nachweisen sollte, daß Edward de Vere, der 17. Graf von Oxford, ... der wahre Verfasser der Shakespeare-Dramen ... war”. Da Sobran genau dieses Buch später geschrieben hat, fällt es schwer, seiner Beteuerung Glauben zu schenken, er habe das lukrative Anerbieten von sich gewiesen. Die Oxford-These entbehrt - wie alle anderen Spekukationen dieser Art - jeglicher wissenschaftlicher Fundierung und steht im offenen Widerspruch zu den historischen Fakten.

Es steht zu befürchten, daß schon bald ein weiterer Verfasserschaftskandidat wieder auftaucht: der Dramatiker Christopher Marlowe. Der verstorbene Erfinder der Marlowe-These, Millionär Calvin Hoffmann, zuvor Presseagent am Broadway in New York, hatte 1955 den reißerischen Titel The Murder of the Man Who Was ‘Shakespeare’ publiziert und darin behauptet, aufgrund textlicher Entsprechungen von Marlowe und Shakespeare müsse ersterer der Urheber der berühmten Dramen und Sonette sein. Richtig ist, daß es bei Shakespeare, der ab 1592 als Autor in London nachgewiesen ist und rasch für Furore sorgte, echoartige Anspielungen auf Marlowe gibt, die lediglich belegen, daß sich Shakespeare mit Marlowes genialem Werk beschäftigt hat. Zur Untermauerung seiner These führt Hoffmann an, der Regierungsspion Marlowe sei 1593 bei der Messerstecherei in einem Wirtshaus gar nicht ums Leben gekommen, sondern habe mit Hilfe des englischen Geheimdienstes nach Italien fliehen können, dort Shakespeares Werke geschrieben und sich seines Namens bedient. Das ist schon deshalb nicht möglich, als beide, Marlowe und Shakespeare, 1592 als Dramatiker in London wirkten und mit ganz unterschiedlichen Stücken Aufsehen erregten. Vor seinem Tod traf Hoffmann wirksame Vorkehrungen für das Überleben seiner Theorie und die unablässige Suche, sie zu beweisen. Wer den Beleg erbringt, daß Marlowe Shakespeare war, erhält das von Hoffmann als Preisgeld ausgesetzte Millionenvermögen. Mit Shakespeare bleibt hier zu fragen: ”Wer ist so fest, den nichts verführen kann?”

* Von der Tagespost leicht gekürzt.

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Hildegard Hammerschmidt-Hummel, “Nicht der Autor, nur noch der Text zählt. Über die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft und ihren eigentümlichen Umgang mit dem Dichter”, Die Tagespost (15. Mai 2001)

Gastgeberin der diesjährigen Shakespeare­-Tage unter dem Leitwort: “Shakespeare: Vom Globe zur Globalisierung” war die Stadt Bremen, die mit Schaufenster­schmuck und Straßentheaterszenen der Bremer Shakespeare Company für das Er­eignis bestens gerüstet war. In seiner Be­grüßungsansprache im vollbesetzten Rat­haussaal ging Präsident Dieter Mehl auch auf die Anfänger der altehrwürdigen, 1864 gegründeten Gesellschaft ein. Robert Wei­mann (University of Califor­nia, Irvine), ehemals Präsident der Deutschen Shakes­peare-Gesellschaft (Ost), hielt den Eröff­nungsvortrag und unter­strich die große Be­deutung der “Performanz als grenzüber­schreitendes Spiel in Shakespeares Thea­ter”.

Debüt für Assistenten

Die Globalisierung der Shakespeareschen Dramen wurde auf der Bremer Tagung mit Beispielen aus Nord- und Mittel­amerika, Nordafrika und dem Fernen Osten (Japan, Korea und Malaysia) veranschaulicht. Jean Howard (Columbia University) erkundete anhand von weniger bekannten elisabetha­nischen Stücken, aber mit ständigem Rück­bezug auf die Werke Shakespeares, das reizvolle Thema “Fenreisen”. Phyllis Rackin (University of Pennsylvania) be­fasste sich mit den globalen merkantilen Einflüssen in Shakespeareschen Dramen – beispiels­weise mit den in “Merchant of Ve­nice” wiedergegebenen Handelsstrukturen und -praktiken Venedigs, die man auch auf London beziehen müsse. Heinz Autor (Uni­versität Köln) berichtete spannend über be­merkenswerte postkoloniale ka­nadische Antworten auf Shakespeare und Klaus The­weleit (Universität Frei­burg) fesselte das Publikum mit seinem Referat “Shakes­peares Sturm, Amerika und der englische Geheimdienst”. Hiro­shi Ozawa (Kwansei Gakuin University) entführte die Teilneh­mer in das Japan des Fin-de-Siècle und die damalige ja­panische Shakespeare-For­schung. Chec Seng Lim (University of Ma­laya), ein routinierter Funktionär internatio­naler Shakespeare-Kongresse, zeichnete ein realistisches Bild von den schwierigen Be­dingungen, denen das Studium Shakespea­res in seinem Land in der Vergangenheit ausgesetzt war. Hinter dem Neugier erre­genden Beitrag “Was Hamlet a Man or a Woman?” von Cath­erine Belsey (Cardiff University, Eng­land) verbarg sich ein Dia­vortrag mit einer Fülle von englischen und deut­schen Hamlet-Illustrationen, der den Gegenstand der Tagung und des Vor­trags aber nur sehr marginal berührte. Als Ant­wort auf die im Titel gestellte Frage wur­den lediglich Bilder der französi­schen Schauspielerin Sarah Bernhardt in der Rol­le des Hamlet eingeblendet. Der Festvor­trag des großen englischen Theaterwissen­schaftlers und Shakespeare-Forschers John Russel Brown über “Asian Theatres and European Shakes­peares” markierte den krönenden Abschluss der Bremer Shakes­peare-Tage. Am Rande der Tagung gab es jedoch auch Kritik. Nicht wenige Teilnehmer sa­hen sich in der Rolle von Konsumenten, denen ein weltweiter Wissenschaftstourismus dicht aufeinander folgende Vorträge bescherte, die anscheinend andernorts schon mehrfach gehalten worden waren. Hinzu kam, dass es keine Möglichkeit gab, Fragen zu stellen und die Themen in Dis­kussionen zu vertiefen. Leider muss auch festgestellt werden, dass man zu der großen Jahrestagung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft anstelle von bedeutenden und erfahrenen deutschsprachigen Shakespeare-Forschem, die – auch mit Blick auf die Lehrerfortbildung – wichtige Beiträge und großes Sachwissen hätten einbringen kön­nen, junge Assistenten zu Vorträgen einge­laden hatte, die offenbar dort ihr Debüt ga­ben: Tobias Döring (“Egypt, Tobago”: Sha­kespeare-Tropen in der Karibik”), Abier Bushnaq (“In the Eye of the Beholder: Sha­kespeare in unenglischer Manier auf ägyp­tischen Bühnen”) und Kamila Shamsie (“Shakespeare in my Garden: Reading Measure for Measure in a Pakistani Con­text”). Grundsätzlich ist es natürlich zu be­grüßen, wenn auch Nachwuchswissen­schaftlern eine solche Chance gegeben wird.

Auf ihre Kosten kamen die Teilnehmer durch die theatralischen Darbietungen des Beiprogramms. Die Bremer Shakes­peare Company mit Norbert Kentrup in der Titel­rolle erntete Beifall für seine Timon-Inszenierung, und das koreanische Ballett-Ensemble  “Mr. Tae-Sok Oh and Mokwha Company, Seoul” begeisterte vor allem das junge Publikum mit einer spritzigen fernöstlichen Version von “Romeo und Julia”. Ein Hochgenuss war die hervorragende Einstudierung von Shakespeares “Was Ihr Wollt” im Großen Haus des Stadttheaters Bremerhaven, die Wolfgang Hofmann besorgte. Es ist zu begrüßen, dass das Shake­speare-Jahrbuch 2001 auch diesmal pünkt­lich zur Tagung vorlag. Für Verwunderung aber sorgten Umschlag und einleitender Kommentar. In letzterem wurde mitgeteilt, in diesem Jahrbuch gehe es “um konse­quente, bewusste und gezielte Umdeutun­gen von Shakespeares Werken oder auch seiner Lebensdaten” (“Shakespeare-Meta­morphosen”).

Auf dem Umschlag befinden sich stark entstellende Variationen des Chandos-Por­träts von Shakespeare, Variationen, die – bis zur materiellen Auflösung des Kopfes vorangetrieben – von einigen Mitgliedern als bewusste Personenzerstö­rung des Au­tors verstanden wurden. Bei dem Chandos-­Bildnis handelt es sich um das älteste Por­trät Shakespeares, für das er als jüngerer Mann (circa zehn bis fünfzehn Jahre vor der Entstehung des Flower-Porträts aus dem Jahre 1609) Modell gesessen haben muss. Das in der Londoner National Por­trait Gallery aufbewahrte Original ist eines der wert­vollsten englischen “Nationalhei­ligtümer”.

Das Thema des Shakespeare-Jahrbuchs 2003, so lasen verdutzte Teilnehmer unter “Call for Papers” des weiteren, würde in dieselbe Richtung gehen: Eingeworben wurden unter anderem Referate, die den Autor Shakespeare zerstören (“the unma­king of Shakespeare”), indem sie andere Kandidaten als Urheber seines Werks un­terstützen (“by backing other candidates as authors of his works”), und auch solche, die die Autorschaft des Dichters im Gefol­ge von de­konstruktivistischen Theorien “neu interpretieren”, die den Tod des Au­tors feiem (“the reinterpretation of Shakes­peare’s authorship in the wake von decon­structive theories extolling the death of the author”).

Ältere Mitglieder der Deutschen Shakes­peare-Gesellschaft (West) mochten sich in diese Situation wehmütig an die Ära der Präsidentschaft von Rudolf Stamm (Basel) erinnern, in der sich der Präsident und sei­ne Vorstandskollegen (darunter Wolfgang Clemen, München, Werner Habicht, Würz­burg, Ernst Leisi, Zürich, Horst Oppel, Marburg, Ernst Theodor Sehrt, Göttingen, und Ulrich Suerbaum, Bochum) – so wie ursprünglich die Gründerväter der Gesell­schaft – der Pflege des Werkes und der Per­son Shakespeares verpflichtet sahen. Der damalige Vorstand repräsentierte unter­schiedliche Schulen und Forschungsein­richtungen. Heute gibt in der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft fast ausschließ­lich die (weit verzweigte) Münchener Schule Wolfgang Clemens den Ton an, für die der Text im Mittelpunkt steht und die sich mit dem historisch-biographischen Forschungsansatz schwer tut. Erstaunli­cherweise aber findet die fiktionale Be­hand­lung von Shakespeares Leben, in der der Dichter als Person zumeist stark abge­wertet wird, offensichtlich die uneinge­schränkte Zustimmung des Vorstands.

Ein maßloser Dichter?

Dies zeigt der 1999 auf der Herbsttagung der Gesellschaft in Bochum gehaltene und im Shakespeare-Jahrbuch 2001 abgedruck­te Vortrag Enno Ruges (“The Disappearing Act: Zwei funktionale Shakespeare-Biogra­fien von Robert Nye”) über “Mrs. Shakes­peare” (1993) und “The Late Mr. Shakes­peare” (1998) von Robert Nye. Nye stellt den großen engli­schen Nationaldichter als “dirty devil” dar, der seine Ehefrau Anne Shakespeare während eines Besuchs in London – wie Ruge ausführt – “in die Ge­heimnisse der Sodomie” (S. 56) einführt.

Im Hinblick auf die Schwierigkeit, dass junge Leser den Unterschied zwischen der fiktiven und der realen Biographie Shakes­peares nicht erkennen können, fragt man sich, warum ein Roman, in dem William Shakespeare als Teufel mit “sexueller Maßlosigkeit” (S. 57) dargestellt wird, auf einer Shakespeare-Tagung so eingehend behandelt wird und wa­rum dieser Beitrag in voller Länge im Shakespeare-Jahrbuch 2001 abgedruckt ist. Ruge – so stellt sich bei näherer Betrachtung heraus – nahm die­se Gelegenheit wahr, über alle (auch die neueren und neuesten) Erkenntnisse mit Bezug auf die reale Existenz William Sha­kespeares äußerst abschät­zig zu urteilen.

Quellenlage in der Diskussion

Er resümiert: Wie Nyes Erzähler Pickle­herring müssten auch wir uns mit einer “Rhapsodie von Lumpen” (“a rhapsody of rags”) zufriedengeben, die man “von ver­schiedenen Misthaufen zusammengetra­gen” habe. (,,gathered together from several dung-hills”). Und er fügt hinzu: “Neue Fakten, die unser Shakespeare-Bild verän­dern oder bestätigen könnten, ... werden wohl nicht mehr auftauchen” (Shakespeare­-Jahrbuch 2001, S. 65).

Diese Aussage über die Quellenlage der Shakespeare-Forschung der Zukunft ist in höchstem Maße unwissenschaftlich und verrät das Wunschdenken des Verfassers, dem hier allerdings dringend angeraten sei nachzuholen, was er bisher versäumt hat: das gründliche Studium der bekannten und neu erschlossenen historischen Quellen zur Biographie Wil­liam Shakespeares und sei­ner Zeit.

Als der Präsident in der Mitgliederver­sammlung der Shakespeare-Gesellschaft am 29. April 2001 unter anderem gebe­ten wurde, er möge im Hinblick auf die irrige, immer weiter um sich greifenden These, der Earl of Oxford habe die Werke William Shakespeares geschrieben, auf der Weima­rer Shakespeare-Tagung 2002 klare Worte zur Verfasser­schaft Shakespeares sprechen oder sprechen lassen, antwortete zunächst der Vizepräsident und meinte, es sei nicht nö­tig, den Oxfordianern zu widersprechen, denn ihre These sei lächerlich. Er könne sich nicht vorstellen, dass sie in den Medi­en und in der Öffentlichkeit Akzeptanz fin­de.

Der Präsident aber gab danach dem Ple­num noch zur Kenntnis, ihm sei es “völlig Wurscht”, wer Shakespeares Werke ver­fasst habe. Denn für ihn zähle nur der Text. Den Oxfordianern müssten – ob solcher Worte – die Ohren geklungen haben. Denn der ranghöchste Vertreter der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, die seit 1864 all­jährlich zur Zeit von William Shakespeares Geburtstag (23. April) tagt, um sich mit Le­ben und Werk des großen englischen Dra­matikers aus Stratford-upon-Avon zu befas­sen, hatte hier erstmals, wenngleich indi­rekt, zu verstehen gegeben, dass er die Ver­fasser­schaft Shakespeares für nicht gesi­chert hält, obwohl er es angesichts des his­torischen Quellenlage besser wissen müss­te. Man darf mit Spannung erwarten, wie sich die Mitglieder auf der Shakespeare-Ta­gung 2002 in Weimar in dieser Frage ver­halten werden.”

(Die Tagespost, Dienstag, 15. Mai 2001) - Foto: Kamp

Umschlag des Shakespeare-Jahr­buchs 2001 (“Meta­morphosen des Chandos-Porträts von Shakespeare”). Das in der National Portrait Gallery in London aufbewahr­te Chandos-Porträt. Es ist das älteste authentische und lebensgetreue Bild­nis des Dichters, das neuesten fachwissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge zwischen 1594 und 1599 entstand und zu den kulturellen Schätzen Englands gehört. Hier wird es verzerrt und fratzenhaft ent­stellt.