Rotraut Hock, “Queen als Krähe. Anglistin
löst gereimtes Shakespeare-Rätsel”, Allgemeine Zeitung
Mainz (13. Mai 2002) und Wiesbadener Tagblatt (13. Mai 2002)
Im Jahre 1601 erschien in London eine kleine Anthologie von
Gedichten mit dem harmlosen Titel "Love's Martyr or Rosaline's Complaint".
Gereimter Liebeskummer, so schien es - nichts, was die Aufmerksamkeit eines
Zensors hätte erregen müssen. Dennoch hatten die bedeutendsten Schriftsteller
der Zeit Beiträge dazu geliefert - darunter auch der Dramatiker, Schauspieler
und Theaterbesitzer William Shakespeare.
Sein kryptisches Gedicht "Phoenix und Taube" hat der Forschung 400
Jahre lang Rätsel aufgegeben. So viel war zu verstehen: es ging um den
gemeinsamen Tod des Vogels Phoenix und der Taube, um ihr feierliches Leichenbegängnis
in der Vogelwelt, an dem einige Vögel - Adler und Schwan - teilnehmen sollen,
andere als "kreischende Gefährten des Bösen" aus dem Kreis
der Trauernden verwiesen werden, bis das Gedicht zuletzt in der Totenklage mündet:
"Wahrheit, Schönheit - sie verwesen! Alle, die ihr schön und
wahr, kommt zur Urne, bringet dar ein Gebet dem Totenpaar!"
Forschung heute
Es lag von vornherein nahe, hinter diesen Versen mehr als eine Tiergeschichte
zu vermuten - und so haben sich Generationen von Shakespeare-Forschern mit der
Deutung abgemüht, ohne dass bisher eine schlüssige Erklärung
gefunden wurde. Jetzt könnte das Rätsel gelöst sein: bei der
Jahrestagung der Shakespeare-Gesellschaft in Weimar legte die Mainzer Shakespeare-Forscherin
Prof. Hildegard Hammerschmidt-Hummel eine Interpretation vor, die mit großem
Interesse aufgenommen wurde.
Hintergrund des Gedichtes sei der gescheiterte Aufstand des Grafen Robert von
Essex ("Phoenix") und seines Freundes Henry Graf von Southampton ("Taube").
Essex - wenn man den zeitgenössischen Darstellungen glauben will: eine
charismatische Persönlichkeit, aufgeschlossen und religiös tolerant,
- war lange Zeit ein Günstling der Königin und hatte die Neider auf
sich gezogen; darunter auch den einflussreichen Francis Bacon, der neben sich
keine anderen Götter dulden mochte. Als es um die Nachfolge der "Virgin
Queen" ging, verhärteten sich die Fronten. Essex versuchte am 8. Februar
1601 den Aufstand - aber die Londoner Bürger verweigerten ihm die Gefolgschaft.
Am 19. Februar wird ihm der Prozess wegen Hochverrats gemacht, fünf Tage
später wird er hingerichtet. Ein standesgemäßer Trauerzug bleibt
dem Hochverräter versagt - und hier sieht die Mainzer Shakespeare-Forscherin
den symbolischen Ort des Klagegedichtes.
Shakespeare, ein überzeugter Essex-Anhänger, müsse die Verse
unmittelbar nach dessen Hinrichtung geschrieben haben - bevor er erfahren konnte,
dass die "Taube" Southampton, die er mit dem Freund gemeinsam sterben
lässt, begnadigt wurde. Die brisante Situation - und die Bezeichnung der
Queen als "dreifach alte Krähe" - erklären, weshalb der
Dichter eine Bildersprache wählte, die schon damals nur den Eingeweihten
verständlich sein konnte.
Es ist nicht das erste Shakespeare-Rätsel, für das Hildegard Hammerschmidt-Hummel
eine Lösung anbietet. Mit Neugier, Beharrlichkeit und modernsten kriminaltechnischen
Methoden hat sie die Authentizität umstrittener Shakespeare-Porträts
nachgewiesen, die Identität seiner Geliebten, der "Dark Lady"
aus den Sonetten enthüllt und die Spuren der Vergangenheit bis in die Gegenwart
verfolgt. William Shakespeare - das ist für die Literaturwissenschaft noch
immer "der Stoff, aus dem die Träume sind."
Abb.: Graf Robert von Essex
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Michael Schramm, “Phönix, der katholische
Rebell. Mainzer Shakespeare-Forscherin entschlüsselt Klagegedicht”,
Frankfurter Allgemeine Zeitung (30. April 2002) - [Hochschulseite]
misc. MAINZ. Kann William Shakespeare Elizabeth I. als “dreifach
alte Krähe” bezeichnet haben? Hildegard Hammerschmidt-Hummel
zumindest glaubt das und nimmt weiter an, daß er in seinem Gedicht
“Phönix und Taube” nicht nur auf bedeutende zeitgenössische
Persönlichkeiten angespielt, sondern sogar in verschlüsselter Form,
aber für seine Leser dennoch eindeutig Position für als Hochverräter
verurteilte und hingerichtete Freunde bezogen habe. Am Wochenende hat die Mainzer
Anglistin die neuesten Ergebnisse ihrer Forschung auf der Jahrestagung
der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft in Weimar vorgestellt.
Hammerschmidt-Hummel hatte erst im vergangenen Jahr mit einem Buch über
Shakespeares “lost years” 1585 bis 1591 Aufsehen erregt. Sie vertrat
darin die These, daß der berühmte Dichter diese Jahre im Untergrund
vor allem in Frankreich und Rom verbracht habe, um die Bemühungen des Vatikans,
England zu rekatholisieren, tatkräftig zu unterstützen. Getreu dieser
These sieht die Wissenschaftlerin auch in “Phönix und Taube”,
das die Forschung gelegentlich als “das mysteriöseste englische
Gedicht” bezeichnet und schon länger allegorisch zu deuten versucht
hat, die Auseinandersetzung zwischen Reformierten und Katholiken im Hintergrund.
Das Klagegedicht erschien 1601 in einer Anthologie.
1601 war auch das Jahr, in dem die Grafen von Essex und Southampton zum Tode
verurteilt wurden, weil sie den Katholiken Toleranz versprochen hatten.
Essex und Southampton - ein eng verbundenes, moralisch integres Freundespaar,
das gemeinsam stirbt- sind nach Ansicht der Anglistin Phönix und Taube.
Hingerichtete durften allerdings keine Totenmesse erhalten. Daher sieht
Hammerschmidt-Hummel in dem Gedicht ein “literarisches Totengedenken”
für die Freunde Shakespeares. Die Gegner von Essex, die Gruppe um Robert
Cecil, einen engen Berater der Königin, sollten dem Begräbnis
fernbleiben. Beiden sei es um die Nachfolge der kinderlosen Herrscherin
gegangen, die zu dieser Zeit 67 Jahre alt war. Das Klagegedicht hat genau
67 Zeilen, davon sind 15 der eigentlichen Klage gewidmet. Fünfzehn Jahre
lang sei aber auch der Graf von Essex mit Elizabeth befreundet beziehungsweise
ihr Günstling gewesen, argumentiert HammerschmidtHummel.
Sie sieht in “Phönix und Taube” das erste Zeichen für
eine Neuorientierung Shakespeares, der nach der Jahrhundertwende keine
Komödien, sondern nur noch Tragikomödien geschrieben habe. In ihrem
neuen Buch, das dem Leben und Werk Shakespeares gewidmet sein wird, soll das
Gedicht als Ausdruck für Shakespeares Resignation einen wichtigen
Platz einnehmen.
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