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Aktualisiert: 01. Oktober 2007 / updated: 01 October 2007



Pressemitteilungen / Press Releases

Phönix und Taube / The Phoenix and the Turtle


b.Vortrag (Zusammenfassung)

Deutsche Shakespeare-Gesellschaft: Referentinnen/Referenten Weimar 2002: “‘The Phoenix and the Turtle’. Notate zur Entstehung des Werks und zur Entschlüsselung seiner Figuren als historische Persönlichkeiten” (26. April 2002):

Zusammenfassung

Shakespeares Klagegedicht “Phönix und Taube” erschien erstmals in einer Anthologie des Jahres 1601, herausgegeben von dem eher unbedeutenden Literaten Robert Chester. Chester gelang es jedoch, nicht nur den damals von seinen Zeitgenossen bereits hochverehrten und gefeierten Autor William Shakespeare, sondern auch drei weitere zeitgenössische Autoren mit klingenden Namen für sein Unternehmen zu gewinnen: George Chapman, Ben Jonson und John Marston, die einander und Shakespeare gut gekannt haben müssen. Anlaß und Absicht des Unternehmens sind bis heute rätselhaft geblieben. Rätselhaft war und ist vor allem der Beitrag Shakespeares. Dieses allegorisch verschlüsselte Werk hat im Verlauf der Jahrhunderte eine Vielzahl von Deutungsversuchen erlebt, von denen bisher keiner zu überzeugen vermochte. I. A. Richards, Autor des berühmten Standardwerks Principles of Literary Criticism (1924), ging 1974 sogar so weit, es als “the most mysterious of English poems” zu etikettieren. Gleichwohl wurde immer wieder die These vertreten, in “Phönix und Taube” könne Shakespeare auf Zeitgenossen angespielt haben - auf prominente und/oder weniger prominente. In die engere Wahl gelangten u. a. Sir John Salisbury, dem die Anthologie gewidmet war, die 1601 hingerichtete Katholikin Anne Lyne, die des ‘Kapitelverbrechens’ überführt worden war, katholische Priester beherbergt zu haben, ferner die Grafen von Essex und Southampton und schließlich auch Elisabeth I. und Essex. Hatte Helmut Castrop in dem von Ina Schabert herausgegebenen Shakespeare-Handbuch (3. Auflage, 1992) von “möglichen Anspielungen auf zeitgenössische Persönlichkeiten” gesprochen, so spitzte Kurt Tetzeli von Rosador diesen potentiellen Zeitbezug in der vierten, im Jahre 2000 erschienenen Auflage dieses bekannten Nachschlagewerks noch weiter zu. Tetzeli stellte zunächst klar, “das allegorische Schreiben [dränge] danach, dechiffriert zu werden”, um anschließend die konkrete Frage zu stellen: “Wen meinen Phönix und Taube?”

Die Autorin unternimmt in ihrem Vortrag den Versuch, darauf und auf Fragen nach weiteren historischen Persönlichkeiten, auf die der allegorisch verschlüsselte Shakespearesche Text offensichtlich abhebt, überzeugende und in sich schlüssige Antworten zu geben. Dies geschieht vor dem spannenden, von der Verfasserin minutiös erforschten Hintergrund der zeit-, kultur- und religionsgeschichtlichen Fakten, Indizien und wahrscheinlichen Verbindungen, die - ähnlich wie die Informationsverarbeitung durch neuronale Netze - durch feinmaschige Verknüpfungen zu einem Netz von gesicherten Ergebnissen führen, das die Eigenschaft hat, auch dann zu halten, wenn einzelne Maschen einmal reißen sollten.

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Mündlicher Vortrag / Paper (read out)


“William Shakespeare: The Phoenix and the Turtle. Notate zur Entstehung des Werks und zur Entschlüsselung seiner Figuren als historische Persönlichkeiten*

Das Rätsel um Shakespeares allegorisches Gedicht ”Phönix und Taube” ist auch nach 400 Jahren noch ungelöst. Denn alle bisherigen Versuche, die allegorischen Figuren in Gestalt von Vögeln als historische Persönlichkeiten zu entschlüsseln, schlugen fehl. Dieses geheimnisvolle Werk fand ”im 20. Jahrhundert eine ständig wachsende Zahl von Bewunderern und Interpreten” und gilt inzwischen ”als eines der wichtigsten lyrischen Werke Shakespeares.” Der Anlaß seiner Entstehung und die Gruppe, auf die Shakespeare anspielt, aber sind unbekannt, ebenso das gemeinsame Anliegen der Mitglieder dieser Gruppe und der Zweck ihrer Versammlung. Man weiß nicht, warum einzelnen Vögeln die Teilnahme strengstens verboten, warum sie einem der außenstehenden Vögel gestattet und einem anderen sogar diktiert wird. Dunkel ist auch, warum die Protagonisten Phönix und Taube starben, warum sie selbst im Tode unzertrennlich sind und schließlich warum sich an ihrer Urne nur jene einfinden sollen, die entweder wahrhaftig (”true”) oder (im moralischen Sinne) ”fair” sind. Nicht zu Unrecht hat I. A. Richards ”Phönix und Taube” als ”the most mysterious of English poems” bezeichnet. Ich möchte heute den Versuch einer Lösung vorstellen.

Das Werk erschien 1601 in Robert Chesters Anthologie Love’s Martyr or Rosaline’s Complaint. Auf der Titelseite wird ein unbekannter Autor mit dem italienischem Namen genannt: Torquato Caeliano. Urheber der Texte sind jedoch die großen englischen Dramatiker und Dichter: William Shakespeare, George Chapman und Ben Jonson, ferner der bekannte Dramatiker John Marston sowie Beiträger, die sich hinter Pseudonymen wie ”Vatum Chorus” (‘Chor der Propheten, Seher, Sänger bzw. Dichter’) und ”Ignoto” (von ‘Ignotus = der Unbekannte) verbergen. Diese Namen und Pseudonyme signalisieren die große Bedeutung des Ereignisses, dessen hier gedacht wird. ‘Ignotus’ ist vermutlich der eigentliche Initiator, der Spiritus Rector des Unternehmens. Die Tatsache, daß das Titelblatt einen unverdächtigen Titel sowie einen falschen und zudem ausländischen Autornamen nennt, deutet darauf hin, daß die Beteiligten die Zensoren des Erzbischofs von Canterbury, John Whitgift (?1530-1604), zu täuschen gedachten. Bisher wurde übersehen, daß der Name des erfundenen Verfassers voller signifikanter kulturgeschichtlicher Anspielungen steckt.

‘Torquato’ dürfte auf Torquato Tasso (geb. 1544) abheben, den berühmten italienischen Dichter des Epos Gerusalemme Liberata, das zur Zeit des ersten Kreuzzugs spielt und unter anderem von Liebenden handelt, die bereit sind, als Märtyrer zu sterben, um Christen zu retten. Torquato Tasso verherrlichte Ritterromantik und Rittertugenden. Auch elisabethanische Adelige - allen voran der
Graf von Essex - haben diese Ideale zu leben versucht.

‘Caeliano’, eine Adjektivform des römischen Geschlechtsnamens Caelius, dürfte auf M. Cael. Rufus anspielen, den bedeutenden römischen Staatsmann und engen Freund Ciceros. Caelius hieß auch der südöstlichste Hügel des alten Rom. Ciceros wirkungsmächtiges Werk über die Freundschaft Laelius de Amicitia war bekanntlich ”das Leitbild der humanistischen Freundschaftsideen”. Zu diesem in der englischen Renaissance wiederbelebten Freundschaftskonzept gehörten ”die feste Einheit der Freunde” auf der Basis von ”Zuneigung und virtus”, ”ihre ‘ewige’ Dauer (über den Tod hinaus)” sowie ”das Bild vom Freund als alter ego”. Beispiele solcher Freundschaften boten: die Humanisten Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus, die Theologen Cornelius Jansen und Guillaume-Damase van der Linden, die Dichter Sir Philip Sidney und Sir Fulke Greville, die Höflinge Robert Devereux, Graf von Essex, und Henry Wriothesley, Graf von Southampton, die Dramatiker Sir Francis Beaumont und John Fletcher sowie die Adeligen Edward, Lord Herbert of Cherbury, und Sir Thomas Lucy III. Freunde dieser Art ließen sich nicht selten gemeinsam malen. Es kam sogar vor, daß sie das Grab miteinander teilten, um auch im Tode vereint zu sein.

Der Druck von Love’s Martyr wurde offenbar von Shakespeares Stratforder Schulkameraden und Freund Richard Field besorgt, der in eine der großen Druckereien Londons eingeheiratet und bereits 1593 und 1594 Shakespeares Versepen Venus and Adonis und The Rape of Lucrece gedruckt hatte. Der Band hatte eine Auflage von nur 50 Exemplaren. Die Adressaten stellten somit nur eine kleine Gruppe dar. Als das Werk 1611 unter dem neuen Titel The Anuals of Great Brittaine offensichtlich zum Gedenken an das Geschehen von 1601 neu aufgelegt wurde, hat man die Verschlüsselungen der ersten Auflage wohl deshalb beibehalten, weil die Akteure, auf die der ursprüngliche Text gemünzt war, vermutlich noch immer höchste Ämter bekleideten und die Preisgabe ihrer Namen nach wie vor gefährlich war.

Die allegorisch als Vögel verschlüsselten Figuren in ”Phönix und Taube” lassen sich in zwei unterschiedliche Gruppen unterteilen: in jene, die im Zentrum steht und deren Anliegen ein Herold mit ‘moralisch reinen Schwingen’ (”sound chaste wings”) in der Welt verbreiten soll, und in jene, deren Mitglieder ‘tyrannische Flügel’ besitzen (”Every fowl of tyrant wing”). Die Angehörigen der ersten Gruppe haben sich zu einem bestimmten Zweck versammelt und verweigern denen der zweiten den Zutritt. Ein kreischender Vorbote des Bösen darf sich den Versammelten nicht nähern (‘To this troop come thou not near’). Einem Adler jedoch, dem gefederten König der Lüfte, der als Raubvogel eigentlich der zweiten Gruppe angehört, wird die Teilnahme erlaubt.

In den Strophen drei und vier wird deutlich, daß es sich um Beerdigungsriten handelt. Denn ‘obsequy’ meint ‘funeral rites, or ceremonies’ bzw. ‘a funeral’. Genauer gesagt geht es um ein katholisches Begräbnis mit einem Priester in weißem Chorgewand (”the priest in surplice white”). Ein solches Gewand trugen katholische Priester bei Beerdigungen und Totenmessen - bei großer Kälte über wärmendem Pelz. Der Priester in ”Phönix und Taube” - der Dichter weist ihm bezeichnenderweise die Rolle des ‘death-divining swan’ zu - stimmt sozusagen den Totengesang an und liest das Requiem. In der christlichen Symbolik verkörpert der Schwan ‘Reinheit und Gnade’, steht für die ‘Jungfrau Maria’ und bringt - als ‘Sinnbild von Märtyrern’ - ‘mit ersterbendem Atem einen Gesang hervor’. Mit der Schwan-Priester-Identifikation spielt Shakespeare zugleich auf die zahlreichen katholischen Welt- und Ordensgeistlichen an, die aufgrund der antikatholischen elisabethanischen Strafgesetze als Hochverräter abgeurteilt wurden und oft mit ersterbendem Atem geistliche Gesänge anstimmten oder Heilige anriefen. Als am 10. Dezember 1591 der Jesuit Edmund Jennings öffentlich hingerichtet wurde, weil er von Elisabeths Meisterspion Topcliffe in flagranti beim heimlichen Lesen der Messe gestellt worden war, hinderte der Regierungspitzel den Jesuiten auf der Leiter zum Galgen am Weiterreden, sorgte dafür, daß er schnellstens von der Leiter gestoßen und der Strick sogleich durchschnitten wurde. Als der Henker dem noch lebenden Priester die Gliedmaßen abhackte und ihm die Eingeweide herausriß, rief Jennings in seiner Todesnot den heiligen Gregor an. Der Henker aber schrie mit lauter Stimme auf: ”God's wounds! his heart is in my hand and yet Gregory is in his mouth.”

Nach der strikten Ausgrenzung aller tyrannischen Vögel - mit Ausnahme des Adlers - wird in Strophe 5 einem Vogel allerdings die Präsenz befohlen: ”And thou treble-dated crow, [...] ‘Mongst our mourners shalt thou go.” Gottlob Regis übersetzte: ”Und du, Krähe, dreifach alte, [...] Zu dem Trauerzug dich halte!” Auch die Krähe fungiert als ein christliches Symbol. Sie steht für ‘Einsamkeit’ und, da sie ‘anderen Lebewesen die Augen aushackt’, für den ‘Teufel, der die Sünder blendet’.

In Strophe 6 beginnt, was der Dichter ‘anthem’ nennt, heben jene liturgischen und biblischen Gesänge an, die der sakrale Anlaß vorschreibt: ”Here the anthem doth commence”.

Kodiert und kryptisch wird verkündet, daß ‘Love’ und ‘Constancy’ tot, ‘Phönix’ und ‘Taube’ in gemeinsamer Flamme von hinnen geflohen seien. Ganze acht Strophen - es handelt sich um das eigentliche Kernstück der Dichtung - widmet der Dichter nun der einzigartigen Beziehung zwischen Phönix und Taube. Dies hat man - im humanistischen Sinne - wohl als ‘Lob der Liebe’ bzw. ‘Freundschaft’ zu verstehen: ‘Two distincts, division none’ (Strophe 7), ‘Either was the other’s mine’ (Strophe 9), ‘Single nature’s double name’ (Strophe 10) und schließlich ‘Co-supremes and stars of love’ (Strophe 13).
Erst in den letzten vier Strophen wird die eigentliche Absicht des Dichters manifest: Die Klage über den Tod von Phönix und Taube, die - im Leben unzertrennlich - nun zu Asche geworden sind.

Das Schlußcouplet faßt noch einmal zusammen, wer sich dem geheiligten Ort der Urne nähern darf: ”To this urn let those repair / That are either true or fair”.

Daß Shakespeare hier auf ein sehr konkretes Ereignis der elisabethanischen Zeitgeschichte und auf eine ganze Reihe herausragender Zeitgenossen anspielt, ist unübersehbar. Und daß diese Art des allegorischen Schreibens entschlüsselbar sein müßte, hat jüngst Kurt Tetzeli von Rosador in der 4. Auflage des Shakespeare-Handbuchs noch einmal betont. Es bleibt also zu fragen, welches Ereignis der Dichter vor Augen hatte, wen er mit Phönix und Taube meinte, wen mit ‘Adler’, ‘Krähe’ und ‘Taube’, wen mit dem dem ‘kreischenden Vorboten des Feindes’, wen mit dem ‘bösen Feind’, ferner, wer die ‘moralisch integren’ Vögel sind und wer die ‘tyrannischen’, und schließlich, wer jener Vogel ist, der im Orient als Künder des traurigen Geschehens fungieren soll.

Diese Fragen, lassen sich meines Erachtens nur dann beantworten, wenn man sie im Kontext der großen Politik des zuendegehenden elisabethanischen Zeitalters betrachtet und ihre Akteure, Drahtzieher und Gegenspieler näher beleuchtet. Diesen historischen Kontext gilt es nun zu skizzieren.

Der Vollzug der Reformation unter Elisabeth I. war nicht nur ein religiöser, sondern auch ein sozialer Umbruch, und zwar von oben. Der alteingesessene Adel und Hochadel wurde durch eine neue politische Klasse verdrängt, die sich bei diesem Wechsel verdient gemacht hatte, der die alten (ritterlichen) Ideale und Tugenden fremd waren, die sozusagen ‘Realpolitik’ betrieb und dabei die neue Religion rigide durchsetzte. Eine Schlüsselstellung hatten die Cecils inne: William Cecil, Elisabeths I. erster Minister und engster Berater, und sein Sohn Robert. In den 90er Jahren gelang jedoch einem Mann der Aufstieg, der neben dem Streben nach Bildung, politischer Macht und militärischem Ruhm auch tradierte Tugenden - wie beispielsweise Ritterlichkeit - in sich vereinigte. Die Rede ist von Robert Devereux, dem Grafen von Essex.

Robert war neun Jahre alt, als sein Vater starb. Nur ein Jahr später heiratete der Graf von Leicester, Elisabeths Günstling, seine Mutter - allerdings ohne Zustimmung der Monarchin. Essex kam - wie nach ihm der junge Graf von Southampton und wie vor ihm der Graf von Oxford - als Mündel in den Haushalt William Cecils. Der Zugriff auf die jungen Waisen oder Halbwaisen des Adels war ein überlegter Schachzug, konnte dadurch doch verhindert werden, daß sie von illegalen Privatlehrern oder sogar Priestern bzw. Jesuiten katholisch erzogen wurden. Cecil schickte den knapp zehnjährigen Essex nach Cambridge, wo er mit vierzehn den ‘Magister Artium’ erwarb. 1587 wurde Essex - 21jährig - von Leicester bei Hofe eingeführt. Die Königin fand sogleich großen Gefallen an ihm, förderte und begünstigte ihn. Er war - wie der englische Historiker John E. Neale schrieb - ”eine stattliche Erscheinung, mit einem auffallend hübschen, offenen Gesicht und weichen, verträumten Augen. [...] ein junger Aristokrat von unwiderstehlichem Reiz, impulsiv und edelmütig, der ritterliche, höfische Held der Balladen”.

Essex stieg schnell und steil auf. 1591 befehligte er - 25jährig - in Frankreich das englische Truppenkontingent, das Heinrich IV. unterstützen sollte. 1593 wurde er Mitglied des Kronrats. 1596 hatte Essex - als gefeierter Sieger von Cadiz - bereits einen Höhepunkt seiner öffentlichen Laufbahn erreicht.

Doch Elisabeth, stets auf ein Gleichgewicht der Kräfte bedacht, ermöglichte auch Robert Cecil, Burghleys brilliantem zweitem Sohn, die Karriere. 1591 berief sie ihn, der schon ab 1590 inoffiziell die Geschäfte des verstorbenen Geheimdienstchefs Walsingham geführt hatte, in den Kronrat und machte ihn 1596 zu Walsinghams Nachfolger.

Essex und der junge Cecil vertraten diametral entgegengesetzte politische Positionen. Als Hardliner führte Cecil die Politik seines Vaters fort. Dies bedeutete u. a. weitere Festigung der Staatskirche und weitere Unterdrückung, Ausbeutung und harte Bestrafung der katholischen Bevölkerung. Essex dagegen war konziliant und Katholiken gegenüber tolerant. Sein anziehendes und noch immer jungenhaftes Äußeres, sein Draufgängertum und seine militärischen Leistungen, gepaart mit Großzügigkeit, Fürsorge gegenüber Schützlingen und Untergebenen sowie Milde gegenüber Besiegten, seine klassische Bildung, vor allem aber seine Ritterlichkeit machten ihn zu einer Ikone des Volkes. Robert Cecil dagegen, von Kindheit an zart, zwergwüchsig und gebrechlich und zudem mit einem Buckel geschlagen, zeichnete sich durch einen scharfen Intellekt, fundiertes Wissen, politischen Sachverstand und Sinn für das innen- und außenpolitisch Machbare aus.

Essex und seine Anhänger verkörperten inoffiziell die Opposition. Unterstützt von William Cecils Neffen Anthony und Francis Bacon, die an Bildung, Geist, Witz und intellektuellen Fähigkeiten einander nicht nachstanden, wurden die Pläne des Grafen immer ehrgeiziger. Während Anthony Zeit seines Lebens Essex’ treuer Freund bleiben sollte, ging es Francis offenbar von Anfang an ausschließlich um die eigene Karriere. Er hielt sich anscheinend nur deshalb an Essex, weil sein Onkel, William Cecil seinen Aufstieg behinderte.

Francis Bacon war extravagant, distinguiert, führte ein luxuriöses Leben, war hoch verschuldet und leistete sich zum großen Unmut seiner puritanischen Mutter, die seinen Lebenswandel verabscheute, einen jungen Mann als Bettgenossen. Er strebte nach hohen Ämtern, nach Macht und Einfluß. Essex’ Absicht, ihn zum Kronanwalt zu machen, wurde von den Cecils vereitelt. Als sie 1595 auch verhinderten, daß Bacon Stellvertretender Kronanwalt wurde, schenkte Essex seinem Schützling als Entschädigung ein Stück Land im Wert von 1.800 Pfund. Dennoch trug Francis Bacon später zur Demontage und zum Untergang seines Gönners bei.

Bacons Bruder Anthony war Anfang 1592 vom Kontinent nach England zurückgekehrt. Er hatte rund 10 Jahre als Spion für Walsingham und die Cecils gearbeitet und an vielen europäischen Höfen wichtige Verbindungen geknüpft. Enttäuscht von seinem Onkel William Cecil, der ihn schlecht bezahlte und behandelte, stellte er nun seine Dienste Essex zur Verfügung. Er verhalf ihm damit zu einem umfangreichen Netzwerk nachrichtlicher Informationsquellen, das wesentlich zu Essex’ politischer Profilierung beitrug und sein Gewicht als Kronratsmitglied deutlich stärkte. Essex war nun - mehr noch als die Cecils - in Lage, seine Königin gezielt mit relevantem außenpolitischem Wissen zu versorgen.

So kam es, daß sich in den 90er Jahren - neben Krone und Kronrat - eine kompetente Opposition, der sogenannte Essex-Kreis, formieren konnte. Obwohl Essex nach wie vor Elisabeths Günstling war, der sich Freiheiten und Frechheiten herausnehmen konnte, betrachtete die Königin, gelenkt durch Cecil und später seinen Sohn Robert, ihn doch auch als ihren Konkurrenten. In seinem großen Machtzuwachs sah sie eine Schwächung ihrer eigenen Position.

Nach der Niederlage der spanischen Armada (1588) und dem Scheitern aller bisherigen Pläne der englischen Krypto- und Exilkatholiken, in England die alte Religion wiedereinzuführen, setzte die (in eine ‘spanische’ und eine ‘schottische’ Partei gespaltene) katholische Opposition - in den 90er Jahren auf eine natürliche Lösung des Problems der Thronfolge, nämlich Elisabeths Ableben. Wünschte sich die einen die spanische Infanta auf dem englischen Thron, so sprachen sich die anderen für Jakob von Schottland aus. Sogar die Cecils, die Frieden mit Spanien suchten, befürworteten insgeheim die Sukzession der Infanta. Essex, Southampton und ihre Parteigänger aber unterstützten - gleichfalls heimlich - den Schottenkönig. Jakob hatte den englischen Katholiken für den Fall seiner Thronbesteigung Toleranz signalisiert.

Die brutale Unterdrückung seiner katholischen Landsleute bereitete Essex offenbar großes Unbehagen. Schon in den frühen 90er Jahren hatte er sich für die loyalen englischen Katholiken eingesetzt, sofern sie gegen Spanien waren. Dies verschaffte ihm in katholischen Kreisen viele Anhänger. Essex stammte zudem aus einer Grafschaft (Staffordshire), die zu einem großen Teil katholisch geblieben bzw. rekatholisiert worden war. Viele seiner Verwandten, Freunde und Bekannten waren Katholiken. Das Meinungsbild der Anhänger der alten Religion festigte sich: Burghley, der ‘Architekt der Repression’ (Hammer), war der Initiator der antikatholischen Strafgesetze, die die englischen Katholiken ins Elend und Exil getrieben, sie wirtschaftlich ruiniert, sie ins Gefängnis oder sogar an den Galgen gebracht hatten. Essex dagegen stand für Toleranz und Linderung dieses Elends.

Die Nachricht, daß der 1593 enttarnte englische Regierungsspion Anthony Standen, ein enger Freund Anthony Bacons, unter dem Schutz von Essex in London seinen katholischen Glauben praktizieren konnte, verbreitete sich unter den englischen Katholiken und Exilkatholiken wie ein Lauffeuer. Rasch verbreitete sich auch, daß Essex sich lobend über die Tapferkeit des schwer gefolterten englischen Jesuitenpaters John Gerard ausgesprochen hatte. In dieser Zeit stellten Katholiken Essex eine anonyme Petition zu, hoffend, er werde sie befürwortend an die Regierung weiterleiten.

Essex hatte sich in den 90er Jahren zu einem weitsichtigen Staatsmann mit einflußreichen Freunden, Beziehungen und konkreten politischen Zielen entwickelt. Er pflegte freundschaftliche Beziehungen zu Heinrich IV. von Frankreich, der 1593 zum Katholizismus übergetreten war. Beherzt hatte er auch die wichtigste nationale Frage, die der Sukzession, in Angriff genommen, ohne Verrat an seiner Königin begangen zu haben. Er war in militärischen Dingen kompetent und erfahren und verfügte über ein diplomatisches und nachrichtendienstliches Netz, das sich von den britischen Inseln über den europäischen Kontinent bis nach Persien erstreckte.

Am persischen Hof (und zeitweilig auch am kaiserlichen Hof zu Prag) hielt sich - als ‘Botschafter’ von Essex - Sir Anthony Shirley auf. 1601 traf Shirley in Rom mit dem berühmten Komiker der Shakespeareschen Theatertruppe, William Kempe, zusammen. Während Kempe im September 1601 nach England zurückkehrte, war dies für Shirley offenbar viel zu gefährlich. Nach Essex’ Tod wurde er gemieden und geriet in große Schwierigkeiten. Im Mai 1602 verweigerten ihm seine Landsleute in Venedig die dringend benötigte Hilfe. Auch vom französischen König, Essex’ Freund, erhielt er nun keine Unterstützung mehr.

In der englischen Historiographie wurde über Jahrhunderte das - verfälschende - Bild vom unfähigen Feldherrn und Politiker Essex tradiert, ein Bild, das ganz offensichtlich von den Gegnern des Grafen gezeichnet wurde, zuvorderst wohl von Robert Cecil, der Essex nicht nur kaltstellen und beseitigen, sondern auch sein positives Image zerstören wollte. Die Aussagen derer, die Essex gekannt und geliebt haben - zu ihnen gehört auch William Shakespeare - sprechen eine ganz andere Sprache. In der jüngsten Geschichtsschreibung ist nun eine Wende eingetreten. In seinem 1999 erschienenen Buch The Polarisation of Elizabethan Politics. The Political Career of Robert Devereux hat der australische Historiker Paul E. J. Hammer meines Wissens erstmals aufgezeigt, daß das überlieferte Image von Essex, das ihn als politisches Leichtgewicht, als Hasardeur und als inkompetenten militärischen Führer ausweist, eine Karikatur ist und dringend der Revision bedarf.

Die Frage nach dem politischen Standort William Shakespeares in der extrem polarisierten Landschaft der Politik der späten Elisabethzeit läßt sich insofern relativ leicht beantworten, als uns der Dichter selber deutliche diesbezügliche Hinweise gegeben hat. Im Prolog des fünften Aktes von Heinrich V. geht Shakespeare enthusiastisch auf das im Frühjahr 1599 aktuellste Gegenwartsereignis und auf Essex ein. Er spricht vom ‘General der gnädigen Kaiserin’, der nach Irland aufbricht, und spielt damit auf Essex und Elisabeth an. Offensichtlich wünscht er für Essex eine ähnlich triumphale Rückkehr wie Heinrich V., der Sieger von Agincourt, sie erlebt hatte. In dieser patriotischen Historie, deren Grundstimmung ein geradezu überschäumender und mitreißender Optimismus ist, lüftet der Dramatiker zeitweilig den Schleier seiner verborgenen Existenz und offenbart uns eigene politische Erwartungen:

Nun ist die Jugend Englands ganz in Glut,
...
Denn jetzo sitzt Erwartung in der Luft
Und birgt ein Schwert, vom Griff bis an die Spitze
Mit Kaiserkronen, Herrn- und Grafen-Kronen,
Heinrich und seinen Treuen zugesagt.

Wie die offenenen und versteckten Anspielungen zeigen, war Shakespeare ein begeisterter Parteigänger von Essex, der im Frühjahr 1599 im Zenit seiner politischen und militärischen Macht stand. Doch das Blatt sollte sich für Essex bald wenden. Wie schon in Frankreich schlug Essex auch in Irland - gegen den ausdrücklichen Willen der Königin - wieder viele seiner Anhänger zu Rittern und festigte damit seine Macht. Als er mit dem katholischen Rebellen Tyrone - ohne Zeugen - unter vier Augen verhandelte, wiegelten seine Gegenspieler die Königin gegen ihn auf. Seine Truppen im Stich lassend, brach er überstürzt nach England auf und drang am 28. September 1599 - verschmutzt und noch in Reisekleidung - in das Schlafgemach der Königin im Palast Nonsuch ein. Elisabeth war noch bei der Toilette. Essex küßte ihre Hände und ihren Nacken und hatte anschließend eine lange Audienz. Die Monarchin schien besänftigt, doch Essex’ Gegner verlangten Rechenschaft. Es folgten lange Verhöre - und im Jahre 1600 eine lange Zermürbungsstrategie mit Verbannung vom Hof und strengem Hausarrest. Essex wurde in dieser Zeit systematisch demontiert. Elisabeth ließ alles dies zu, weil sie in ihrem Günstling zugleich auch den Konkurrenten um die Gunst ihres Volkes sah. Sie glaubte, er stehe bereits über ihr.

Als Essex Anfang Februar 1601 zum Hof einbestellt wird, ist dies das Signal für den Aufstand, der zugleich als Befreiungsschlag gedacht ist. Denn seine Anhänger vermuten, Essex werde verhaftet und in den Tower geworfen. Essex und Southampton entscheiden sich für den Staatsstreich. Mit bewaffneter Macht gedachte man in den Regierungspalast einzudringen und die Berater der Königin zu entfernen, um Essex wieder freien Zugang zu seiner Monarchin zu ermöglichen.

Am 7. Februar 1601, dem Vortag der Rebellion, lassen einige Mitverschwörer im Globe Theatre Shakespeares Richard II. aufführen, und zwar mit der verbotenen Absetzungsszene. Wie der pflichtvergessene Richard II. war auch Elisabeth in den Augen der Verschwörer pflichtvergessen. Denn sie hatte es versäumt, die Frage der Thronfolge zu regeln. Elisabeth wußte, daß mit Richard kein anderer als sie selber gemeint war.

Als man am 8. Februar 1601 in Essex House aufbrach, beschloß Essex, zunächst in der City von London die Bürger auf seine Seite zu bringen und erst anschließend nach Whitehall zu reiten. Die verängstigten Bürger aber versagten sich ihm. Der Aufstand scheiterte. Essex und seine Mitverschwörer retteten sich nach Essex House, mußten sich aber noch am selben Tag ergeben.

Essex’ engster Freund, Gefährte und Mitanführer war der katholische Graf von Southampton, Shakespeares Patron, Förderer und Freund. Er war es, der während des Aufstands auf dem Dach von Essex House die Verhandlungen mit den Vertretern der Regierung führte.

Seit den frühen 90er Jahren waren Essex und Southampton als Freunde unzertrennlich. Southampton bewunderte Essex, eiferte ihm nach und nahm an einigen seiner Expeditionen teil. Essex machte seinen Freund vor seinem Irland-Feldzug - gegen den Willen der Königin - zum Master of the Horse.

Die Essex-Rebellion und ihre Folgen waren die mit Abstand bedeutendsten, dramatischsten und die Gemüter bewegendsten politischen Ereignisse am Ende der elisabethanischen Ära. Das Jahr 1601 stand - wie die Quellen offenbaren - ganz im Zeichen dieser Geschehnisse. Am Donnerstag, dem 19. Februar 1601, fand der Hochverratsprozeß gegen Essex und Southampton statt. Während der Verhandlung legte Bacon - wohl in Absprache mit seinem mächtigen Vetter Robert Cecil - die juristischen Fallstricke, die seinem einstigen Förderer Essex und auch Southampton zum Verhängnis wurden. Nachdem Kronanwalt Edward Coke aus der Rolle gefallen war, Essex angeschrien und ihm zu Unrecht unterstellt hatte, er habe der Königin nach dem Leben getrachtet, ergriff Bacon das Wort und argumentierte nüchtern und eiskalt, Essex habe die Bürger Londons zum Aufstand anstiften wollen, und zwar nach dem Vorbild des Herzogs von Guise, der die Bewohner von Paris auf seine Seite gebracht und Heinrich III vertrieben hatte. Dies sei Hochverrat. Damit war das Schicksal von Essex und Southampton besiegelt. Beide wurden für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Robert Cecil, der alles dies hinter einem Vorhang mit angehört hatte, dürfte das Werk seines Vetters bewundert haben. Southamptons Urteil ließ er später in lebenslange Haft im Tower umwandeln - vermutlich aufgrund der Fürsprache seiner Ehefrau und seiner Mutter.

Essex wurde am Mittwoch, dem 25. Februar, es war Aschermittwoch, auf dem Tower Hill hingerichtet. Sein Henker entging anschließend in den Straßen Londons nur knapp der Lynchjustiz. Die Anhänger des Grafen verharrten in ohnmächtigem Schweigen, viele tauchten unter. Nur einer, Captain Thomas Lee, hatte versucht, Essex zu befreien, und endete nach kurzem Prozeß am Galgen.

Shakespeares Klagegedicht ”Phönix und Taube” erschien - wie wir wissen - kurz nach der Hinrichtung von Essex. Schon von daher liegt ein Zusammenhang mit diesem Ereignis sehr nahe. Mit Essex verloren die englischen Katholiken - auch William Shakespeare - einen großen politischen Hoffnungsträger.

Liest man ”Phönix und Taube” vor diesem bewegten zeitgeschichtlichen Hintergrund, dürften mit den trauernden Vögel wohl die Essex-Anhänger, dürften mit ‘Phönix’ und ‘Taube’ Essex und Southampton gemeint gewesen sein. Da Shakespeare den Text unmittelbar nach der Verurteilung, also noch vor der Begnadigung von Southampton verfaßt haben muß, mußte er davon ausgehen, daß auch Southampton hingerichtet werden würde. Hingerichteten Hochverrätern aber wurde die letzte Ehre eines feierlichen Trauerzugs und Requiems bekanntlich verweigert. Der Dichter hat sie Essex und Southampton daher sozusagen literarisch zuteil werden lassen.

Wenn diese Annahmen zutreffen, müssen sich auch die übrigen allegorischen Figuren des Gedichts stimmig in das hier aufgezeigte hoch brisante politische Szenario einfügen lassen, müssen die besonderen Merkmale der einzelnen Vögel in ”Phönix und Taube” mit denen der Macher der großen Politik am Ende der elisabethanischen Ära und mit ihren perfiden Ränkespielen in Einklang stehen.

Shakespeares Klagegedicht beginnt mit der Ankündigung eines feierlichen Bestattungsrituals für zwei herausragende und hochverdiente Persönlichkeiten, für die ein katholischer Priester das Requiem lesen wird. Es besteht aus insgesamt 67 Zeilen und hat 13 vierzeilige und 5 dreizeilige Strophen. Die Anzahl der Zeilen dürfte sich auf das zu dieser Zeit aktuelle Lebensalter der Königin beziehen: Elisabeth war im Februar 1601 genau 67 Jahre alt. Die insgesamt 15 Zeilen des eigentlichen Klagelieds (”Threnos”) dagegen dürften auf die insgesamt 15 Jahre lange Beziehung zwischen Elisabeth und Essex abheben, die - wie erwähnt - 1587 mit Essex’ Einführung bei Hofe begann und 1601 mit seinem Tod endete.

Mit dem Vogel auf dem einsamen arabischen Baum (Strophe 1), der als Herold bestimmt wird, um die traurige Kunde zu verbreiten, dürfte Sir Anthony Shirley gemeint gewesen sein, Essex’ Abgesandter in Persien, dem vorderen Orient, am deutschen Kaiserhof sowie in Frankreich und Italien. Zudem könnte eine gewisse Anspielung auf einen jener Orte, nämlich Arabien, vorliegen, an denen der mythologische Phönix beheimatet sein soll.

Der ‘kreischende Vorbote’, der ruchlose Vorläufer des bösen Feindes, der der (eigenen) Truppe nicht nahekommen möge (Strophe 2), erinnert so stark an Francis Bacon, der seinen großen Gönner Essex in dem gerade abgeschlossenen Hochverratsprozeß eiskalt zu Fall gebracht hatte, daß es stringent erscheint, in ihm den ”shrieking harbinger” und ”foul precurrer of the fiend” zu sehen. Alternativ kommt eventuell Kronanwalt Edward Coke in Frage. Hinter dem ‘bösen Feind’ (‘fiend’) dürfte sich kein anderer als Robert Cecil verbergen, Essex’ großer politischer Gegenspieler bei Hofe, der - wie gezeigt wurde - seinen Konkurrenten auf perfide Weise und systematisch demontieren ließ, und ihn schließlich mit ausgeklügelten Ränkespielen und machiavellistischer Strategie aus dem Weg räumen ließ.

Von dem Trauerzug für Essex und Southampton werden überdies alle ‘Vögel mit tyrannischen Flügeln’ ausgeschlossen (Strophe 3). Hier können nur die Parteigänger Robert Cecils gemeint gewesen sein. Wenn aber der Adler, der ‘gefederte König’ der Lüfte, hier ausdrücklich ausgenommen wird (Strophe 3), so dürfte der Dichter dabei an Jakob von Schottland gedacht haben, den Essex und seine Anhänger als Nachfolger Elisabeths aufgebaut hatten. Wie erwähnt, erhofften sich die englischen Katholiken (Shakespeare eingeschlossen) von ihm die Gewährung religiöser Toleranz und damit eine deutliche Verbesserung ihrer prekären Lage.

Daß die Präsenz eines ‘Priesters in weißem Chorgewand’ auf ein katholisches Begräbnis mit katholischem Requiem hinweist, wurde gleichfalls bereits hervorgehoben. Die weiße Farbe des Priestergewandes deutet auf die Unschuld der Toten hin, eventuell sogar darauf, daß sie als Märtyrer für ihre politische und/oder religiöse Überzeugung gestorben sind.

Wenn schließlich Strophe 5 der ‘dreifach alten Krähe’ (”treble-dated crow”) die Teilnahme sogar diktiert wird, so kann es sich hier nur um die Königin selber handeln. In der respektlosen Anrede ”Und du, Krähe, dreifach alte” manifestiert sich die ohnmächtige Wut des Dichters, ja aller Essex-Anhänger, gegenüber ihrer Monarchin, die eine solche Katastrophe geschehen, die ihren engsten persönlichen Freund zugrunde- und hinrichten ließ. Gegenüber ‘Kadaver’, ein Schimpfwort, das Essex einmal mit Bezug auf Elisabeth im Affekt benutzt hatte, erscheint ‘dreifach alte Krähe’ sogar noch harmlos. Ihr trägt der Dichter auf, Essex und Southampton die letzte Ehre zu erweisen, so wie es Anstand und Sitte gebieten.

Die Protagonisten ‘Phönix’ (= Essex) und ‘Taube’ (= Southampton) werden als distinguierte und unzertrennliche Persönlichkeiten dargestellt (”Two distincts, division none” - Strophe 7), die - wechselseitig entflammt - aus dieser Welt geflohen seien. Sie werden überdies ”Co-supremes and stars of love” (Strophe 13) genannt. Mit ”Co-surpremes” spielt er darauf an, daß beide - auch in moralischer Hinsicht - an der Spitze gestanden haben, ”Stars of love”, daß sie sich gegenseitig so zugeneigt waren, daß der eine gleichsam des anderen alter ego war. Dieses auf Ciceros Amicitia fußende humanistische Freundschaftskonzept traf in besonderer Weise für Essex und Southampton zu, wie bereits eingangs skizziert.

Im eigentlichen Klagelied (Strophe 14-18) heißt es dann, Phönix und Taube, der Inbegriff von Schönheit und Wahrheit, seien nun zu Asche geworden. An ihrer Urne dürfen (nur) diejenigen ein Totengebet sprechen, die (selber) wahr oder rein sind (”either true or fair”). ”True” bedeutet hier ‘standfest, treu bzw. loyal gegenüber einem Anführer oder Freund, gegenüber einer Sache, einem Versprechen etc.’ und ”fair” soviel wie ‘frei von Makel und Entstellung’, ‘frei von moralischer Befleckung’ (s. OED). Auch dies steht in Einklang mit dem historischen Kontext, in dem wir uns hier bewegen.

Die Anregung für das Bild des Phönix, der sich selber verbrennt und zu Asche wird, um nach Jahrhunderten wiederzukehren, ein Bild, das in der christlichen Symbolik für die Auferstehung Jesu steht, könnte Shakespeare von dem Epitaph des berühmten Doppelgrabs der beiden ersten Bischöfe von Gent, Cornelius Jansen und Guillaume-Damase van der Linden, aus dem späteren 16. Jahrhundert in der Sint-Baafskathedrale zu Gent erhalten haben, das schon damals von zahlreichen europäischen Reisenden aufgesucht wurde. Auch der Schweizer Arzt Thomas Platter d. J., der Shakespeare-Forschung als Augenzeuge einer Julius Caesar-Aufführung im Globe Theatre bestens bekannt, hat es gesehen und die Inschrift transkribiert: ”Unicus es phoenix cineres haec tumba duorum / Phoenicum verae religionis habet”. Er übersetzte: ”Du bist ein eintziger phoenix, (ist ein vogel in Arabia, welcher 600 jährig sich verbrennet unndt auß seiner eschen widerumb geboren wirdt), unndt bewahret dieß grab die eschen zweyer solcher (phoenicum) vöglen der wahren religion.”

Ich habe dieses Grab am 13. Januar 2002 besucht und bei der Überprüfung des Textes Übertragungsfehler Platters festgestellt. Ferner entdeckte ich dort noch eine weitere Inschrift: ”Ovomodo in vita sua dilexerunt se. / Ita et in more non sunt separati”. Beide Inschriften einschließlich Platters Übertragung haben dem Renaissance-Forscher und Klassischen Philologen Dieter Wuttke zur Prüfung vorgelegen. Die neuen Übersetzungen Wuttkes lauten:

Dies ist ein Phönix ohnegleichen: Dies Grab enthält die Aschen zweier Phönixe der wahren Religion. Und: Die eben noch in ihrem Leben einander zugeneigt waren, sind so auch im Tode nicht getrennt.

Shakespeare muß Flandern aus seiner Zeit im katholischen Untergrund gut gekannt haben. In Flandern befand sich (bis auf seine vorübergehende Verlegung nach Reims) das Collegium Anglicum; in Flandern lebten Hunderte von englischen Exilkatholiken, auch Thomas Hoghton I, der eigentliche Chef von Hoghton Tower in Lancashire, der ein Freund von Kolleggründer William Allen war. Flandern war - neben Rom - das Hauptoperationsgebiet der englischen Kryptokatholiken auf dem Kontinent. Wenn Shakespeare das Doppelgrab der auch im Tode unzertrennlichen Freunde gekannt hat, könnte er sich daran erinnert haben, als er für die gleichfalls unzertrennlichen Freunde Essex und Southampton, die gemeinsam sterben sollten, die Totenklage verfaßte. Er könnte sich auch deshalb an diese Epitaphe erinnert haben, weil in ihnen von den ”Phönixen der wahren (sprich katholischen) Religion” die Rede ist.

Nach der Hinrichtung von Essex (und später auch anderer Verschwörer des Essex-Kreises) und der Inhaftierung Southamptons im Tower wurde die Macht des Robert Cecil praktisch unumschränkt. Und: Cecil übernahm das politische Konzept seines toten Gegners, nicht aber dessen tolerante Haltung gegenüber der katholischen Bevölkerung. Die englischen Katholiken hatten mit Essex einen ihrer großen Hoffnungsträger verloren.

Als Elisabeth I. im März 1603 auf dem Totenbett lag, sicherte sich Cecil ihr Einverständnis und sandte nach Jakob von Schottland. Man hat ihn als den Architekten des unblutigen Machtwechsels gefeiert. In Wirklichkeit aber hatte Robert Cecil skrupellos die Früchte jenes Feldes geerntet, das Essex und seine engsten Vertrauten ein ganzes Jahrzehnt lang in mühevoller Arbeit bestellt hatten.

Als Jakob 1603 den englischen Thron bestieg, kam Southampton frei und wurde wieder in seine alten Rechte eingsetzt. Francis Bacon war einer der ersten, die ihm gratulierten und ihm seine Ergebenheit bekundeten.

Angesichts dieser historisch-biographischen Zusammenhänge wird begreiflich, warum sich Shakespeare - im Gegensatz zu vielen anderen Autoren seiner Zeit - beim Tod seiner Königin nicht literarisch geäußert hat, warum aus seiner Feder keine Zeile der Klage über ihr Ableben floß, kein Hymnus auf die Leistungen der toten Monarchin, auch dann nicht, als man ihn direkt und indirekt dazu aufforderte.

* Vortrag, gehalten am 26. April 2002 auf der Jahrestagung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft in Weimar. Vgl. dazu auch ”Das machtpolitische Szenario am Ende der elisabethanischen Ära und Shakespeares Wende zum Tragischen”, speziell ”Shakespeares Klagegedicht ”Phönix und Taube”, in: H. Hammerschmidt-Hummel, William Shakespeare. Seine Zeit - sein Leben - sein Werk (Mainz, 2003), S. 171-207, nachfolgend abgekürzt zitiert unter: William Shakespeare (2003). Der erweiterte Vortragstext mit ausführlichem Anmerkungsapparat und Abbildungen erschien im September-Heft (2003) der Zeitschrift Anglistik. Mitteilungen des Deutschen Anglistenverbandes.

Eingeblendete Dias:

Abb. 1: ”William Shakespeare - Authentische Bildnisse und Montagen”. Von links nach rechts: Ausschnitt Chandos-Porträt (ca. 1594-99), Ausschnitt restauriertes Flower-Porträt (1609), Ausschnitt Droeshout-Stich in der ersten Werkausgabe (1623), Totenmaske (1616), Ausschnitt nicht restauriertes Flower-Porträt (1609), Ausschnitt BKA-Montage: Chandos/Flower (1995), Ausschnitt Grabbüste, Ausschnitt BKA-Montage: Totenmaske/Grabbüste (1995). Bildzitat aus: H. Hammerschmidt-Hummel, William Shakespeare. Seine Zeit - sein Leben - sein Werk (Mainz, 2003), erste Umschlagseite, Ausschnitt. Nachfolgend abgekürzt zitiert: William Shakespeare (2003).

Abb. 2: Reiterbildnis des Grafen von Essex aus dem Jahre 1601. Kupferstich, Österreichische Nationalbibliothek, Wien. Bildzitat aus: William Shakespeare (2003), S. 181, Abb. 120, Ausschnitt.

Abb. 3: Königin Elisabeth I., um 1575. National Portrait Gallery, London. Bildzitat aus: Roy Strong, The English Icon: Elizabethan & Jacobean Portraiture (London/New York, 1969), S. 160, Abb. 106, Ausschnitt Kopf.

Abb. 4: Robert Devereux, Graf von Essex. National Portrait Gallery, London. Bildzitat aus: William Shakespeare (2003), S. 184, Abb. 124, Ausschnitt Kopf.

Abb. 5: Henry Wriothesley, Graf von Southampton, um 1600. National Portrait Gallery, London. Bildzitat aus: William Shakespeare (2003), S. 96, Abb. 82, Ausschnitt Kopf und Schultern. Das in der Sammlung des Duke of Buccleuch in Boughton House (Northamptonshire) aufbewahrte Porträt des Grafen entstand zur Erinnerung an Southamptons Haftstrafe im Tower. Bildzitat aus: H. Hammerschmidt-Hummel, Das Geheimnis um Shakespeares ‘Dark Lady’ (Darmstadt, 1999), S. 73, Abb. 10. Zur Bildbeschreibung und Erläuterung einzelner Bildzeichen siehe S. 71ff.

Abb. 6: Robert Cecil, 1602. The Marquess of Salisbury, Hatfield House. Bildzitat aus: William Shakespeare (2003), S. 173, Abb. 115b, Ausschnitt Kopf.

Abb. 7: Francis Bacon, erster Baron Verulam, um 1610. Sir Edmund Bacon, Bart. Bildzitat aus: The English Icon (1969), S. 329, Abb. 353, Ausschnitt Kopf.

Abb. 8: König Jakob I., um 1605. The Earl of Haddington. Bildzitat aus: The English Icon (1969), S. 264, Abb. 248,
Ausschnitt Kopf.

 

[Das erweiterte Manuskript wurde - mit Anmerkungsapparat und Abbildungen - in der Anglistik. Mitteilungen des Deutschen Anglistenverbandes (Sept. 2003) publiziert. Die Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers der Anglistik Prof. Dr. Dr. h. c. Rüdiger Ahrens, Universität Würzburg]


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