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Aktualisiert: 01. Oktober 2007 / updated: 01 October 2007

William Shakespeare: Die authentischen Bildnisse

William Shakespeare: The authentic images


c Repliken / Replies


Chandos Flower Droeshout Totenmaske Grabbüste

Auszug aus: Hildegard Hammerschmidt-Hummel, “Das Shakespeare-Bild und Bilder Shakespeares am Ende des 20. Jahrhunderts”, Anglistik. Mitteilungen des Verbandes Deutscher Anglisten (März 1998):

“So wie immer wieder versucht wurde, William Shakespeare das geistige Eigentum abzuerkennen, wurde auch versucht (und dies sogar über einen längeren Zeitraum hinweg erfolgreich), die Echtheit aller vorhandenen Shakespeare-Porträts - einschließlich der Darmstädter Shakespeare-Totenmaske - in Zweifel zu ziehen. Shakespeares Zeitgenossen wären wohl niemals auf den Gedanken verfallen, daß sämtliche zu ihrer Zeit angefertigten Porträts des Dichters einmal für unecht gehalten werden könnten und in die Reihe der später entstandenen Fälschungen, Fehlidentifizierungen und Phantasiebildnisse eingeordnet werden würden. Wohl niemand hätte sich vorstellen können, daß ausgerechnet das Flower-Porträt, das dem Stecher Martin Droeshout als Vorlage für den berühmten und von Ben Jonson als authentisch bestätigten Kupferstich gedient hat, im 20. Jahrhundert nur knapp der endgültigen Vernichtung entgehen würde. Denn als 1966 bei einer Röntgenuntersuchung des Bildes im Londoner Courtauld Institute unter diesem Shakespeare-Bildnis eine Madonnen-Darstellung aus dem 15. Jahrhundert entdeckt wurde, trug man sich ernsthaft mit dem Gedanken, das vermeintlich wertlose Shakespeare-Porträt gänzlich zu entfernen, um das darunter liegende Gemälde freilegen zu können, das man für wertvoller hielt (vgl. Paul Bertram and Frank Cossa, "'Willm Shakespeare 1609': The Flower Portrait Revisited", Shakespeare Quarterley, 37, 1986, S. 93). Wäre dieser Schritt tatsächlich vollzogen worden, hätte er sich spätestens nach dem Echtheitsnachweis des Jahres 1995 als Tragödie erwiesen.

Die These, es existiere kein einziges authentisches Shakespeare-Porträt, für das der Dichter selber Modell gesessen hat, wurde zu Beginn unseres Jahrhunderts aufgestellt, aber praktisch bis zu seinem Ende akzeptiert. Sie wurde erst widerlegt, als die Verfasserin 1995, gestützt auf die Ergebnisse zweier Identifizierungsverfahren des Bundeskriminalamts und die gutachterliche Stellungnahme eines Fachmediziners (Ophtalmologie), zunächst die Echtheit des Chandos- und des Flower-Porträts und anschließend die Echtheit der Darmstädter Shakespeare-Totenmaske beweisen konnte und 1996 mit Hilfe von zwei weiteren medizinischen Fachgutachten (Dermatologie und Pathologie) in Verbindung mit den bereits erbrachten Echtheitsbeweisen einen weiteren Nachweis der Echtheit für das Flower-Porträt und die Maske führen konnte. Die Ergebnisse wurden im Shakespeare-Jahrbuch (1996) und im September-Heft 1996 der vorliegenden Zeitschrift veröffentlicht. Ein Artikel der Verfasserin über den 1997 geführten, zusätzlichen Echtheitsnachweis für beide Gemälde und die Darmstädter Shakespeare-Totenmaske, der die bisherigen Ergebnisse erneut bestätigt und erhärtet, ist in dem vorliegenden Anglistik-Heft abgedruckt.

Wie aber erklärt es sich, daß es - auch bei den bildlichen Darstellungen des Dichters - zu solch gravierenden Fehleinschätzungen und Irrtümern kommen konnte?

Geht man von der Darmstädter Shakespeare-Totenmaske aus, jenem Gipsabguß, der die Gesichtszüge des Dichters veristisch wiedergibt, so zeigt sich, daß sich die beiden Säkula, in denen man sich mit der Maske beschäftigen konnte, hinsichtlich ihres Forschungsansatzes signifikant voneinander unterscheiden. Die Untersuchungen im 19. Jahrhundert gingen von Beobachtungen und Messungen am Originalobjekt selber aus. Im 20. Jahrhundert hat man auf die Anschauung des zu erforschenden Gegenstands gänzlich verzichtet. Eine Ausnahme bildeten der Historiker Paul Wislicenus und der Bildhauer Robert Cauer, die 1911 die Büste vermessen und mit der Maske verglichen haben, deren Ergebnisse aber nicht überzeugen konnten. Man akzeptierte kritiklos die um 1910 fixierte Meinung einer Autorität. Der englische Kunsthistoriker Marion H. Spielmann erklärte die Maske damals für unecht, ohne sich dabei auf die Anschauung und auf wissenschaftliche Untersuchungen am Original stützen zu können. Er ist einer Einladung nach Darmstadt nachweislich nicht gefolgt, hat das Objekt also nie im Original gesehen. So erklärt es sich, daß auch seine Angaben über die Inschrift falsch sind. Gleichwohl diskreditierte Spielmann diejenigen, die die Echtheitsfrage durch Beobachtung und vergleichende Betrachtungen am Originalobjekt angegangen waren, als 'Gläubige' ('believers'). Zu den 'Diskreditierten' gehörten herausragende Persönlichkeiten, Wissenschaftler und Künstler des 19. Jahrhunderts: der bereits erwähnte Anatomieprofessor, Sir Richard Owen, vom Britischen Museum; William Page, amerikanischer Maler und Bildhauer und Präsident der New York Academy of Design; Wilhelm von Bode, Kunsthistoriker und Generaldirektor der Berliner Museen; der Bonner Gelehrte Hermann Schaaffhausen; Mitglieder der 'Deutschen Naturforscher und Aerzte', die ein (positives) 'kraniologisches und physiognomisches Urtheil' abgegeben hatten. Sie alle (insbesondere auch Wislicenus und Cauer) waren zu der Überzeugung gelangt, daß die Maske echt sein müsse, konnten dies jedoch nicht eigentlich beweisen. Während ihre Ergebnisse praktisch unbeachtet blieben, hatte Spielmann Gelegenheit, seine unzutreffende persönliche Meinung als 'enzyklopädisches Wissen' in der Encyclopaedia Britannica (1911) weltweit zu verbreiten. Das machte ihn zur unumstößlichen und nicht mehr hinterfragten Autorität - mit der Schlagkraft eines Aristoteles. Vergleiche mit mittelalterlichen Denkschemata drängen sich auf, da im Prinzip während des gesamten Mittelalters in wissenschaftlicher Hinsicht bekanntlich nur galt, was bei Aristoteles geschrieben stand.

Auf die Autorität Spielmanns - und zwar auf sie allein - stützte sich (ab 1970) der Anglist und Shakespeare-Biograph Samuel Schoenbaum. Anders lautende Ergebnisse ließ er nicht gelten. Frederick J. Pohl, der in seinem Artikel "The Death-Mask" (Shakespeare Quarterly, 1961) zu dem Schluß gelangte, die Maske müsse authentisch sein, wurde von Schoenbaum (Shakespeare's Lives, 1970, new ed. 1991) als 'Enthusiast' der Lächerlichkeit preisgegeben. Sein Schluß konnte nicht richtig sein, da er ja in diametralem Gegensatz zu dem Diktum der "foremost modern authority on Shakespearian iconography" stand, wie Schoenbaum den Status seines mächtigen Vorgängers umschrieb, den er namentlich gar nicht zu nennen brauchte. Fakt aber ist, daß Schoenbaum (ebensowenig wie Spielmann) die Maske, über die er ein in der Fachwelt kritiklos akzeptiertes negatives Urteil fällt, jemals im Original gesehen hat. Immerhin bat er einen deutschen Kollegen, ihm ein Foto der Maske zu besorgen, das er - nach rund zwanzig Jahren - in der Neuausgabe von Shakespeares Lives (1991) erstmals publizierte.

Vor einiger Zeit wurde erneut der Versuch unternommen, an die oben dargelegte unselige Tradition anzuknüpfen. Die bereits publizierten Fehlmeinungen dürfen nicht unwidersprochen bleiben.

In ihrem Vortrag "Shakespeare's Portraiture and National Identity", den sie 1996 auf der Bochumer Shakespeare-Tagung gehalten und im British Council in Köln wiederholt hat, stellte die englische Kunsthistorikerin Marcia Pointon die Echtheitsnachweise der Verfasserin pauschal in Frage, ohne aber - wie sie selber öffentlich zugab - die angewandten Methoden der Beweisführung und die einzelnen Ergebnisse überhaupt zu kennen. Sie bezog sich ausschließlich auf reißerische Pressemeldungen, obwohl schon der New Scientist (21.10.1995), das Wissenschaftsmagazin Tomorrow's World der BBC (15.12.1995) und die Londoner Times (24.04.1996) auf der Basis des bei der Verfasserin angeforderten Materials darüber - von kleineren Fehlern abgesehen - sachlich richtig berichtet hatten.

In dem im Shakespeare-Jahrbuch (1997) veröffentlichten Vortrag Professor Pointons wird zunächst ein großer Bogen von Sokrates über Augustus bis hin zu Shakespeare geschlagen, um zu demonstrieren, daß es sich bei den uns bekannten Porträts der Genannten letztlich nur um 'Fiktionen' ('fictions') handelt. Die Bildnisse des Sokrates - so Pointon - seien Hunderte von Jahren nach dem Tod des Philosophen entstanden und müßten als 'Chiffren' oder 'Symbole' betrachtet werden, die - instrumentalisiert - nur als Ersatz für eine bestimmte 'Idee' von einem Philosophen der Antike fungierten. Augustus - so vernehmen wir - habe seine Bildnisse selber in Auftrag gegeben, und man dürfe nicht den Fehler machen, sie für lebensähnliche Porträts des Imperators zu halten. Ebensowenig wie von Sokrates und Augustus - so wird uns suggeriert - könne es authentische Bildnisse von Shakespeare geben. Und selbst wenn es sie gäbe, wären sie nur 'Interpretation' bzw. 'Konstrukt'. Denn 'Porträts' (fotografische Porträts eingeschlossen) seien nur 'Fiktionen' - 'Ähnlichkeit' und 'Wahrheit' lediglich 'bildliche Effekte'. Der Verfasserin wurde von Pointon unterstellt, sie habe lediglich eine 'Fiktion' mit einer anderen verglichen. Diese Unterstellung ist abwegig.

Überprüft man die von Pointon angeführten historischen Beispiele im einzelnen, so stellt sich heraus, daß die angeblich erst Jahrhunderte nach seinem Tod entstandenen Bildnisse des Sokrates, der 399 v. Chr. hingerichtet wurde, zumeist nach zwei griechischen Originalen geschaffen wurden, die sehr nahe an die Lebenszeit des Philosophen heranreichen. So ist der bekannte, im Nationalmuseum in Neapel aufbewahrte 'Kopf des Sokrates' (Inv.-Nr. 6129) zwar eine römische Kopie aus der frühen Kaiserzeit, die jedoch nach dem bereits um 380 v. Chr. entstandenen Original einer attischen Bronzestatue gefertigt wurde. Der Bildhauer war vermutlich Silanion, der "sich vielleicht noch an Sokrates erinnert [hat]" (Karl Schefold, Die Bildnisse der antiken Dichter, Redner und Denker, neubearb. Aufl. 1997, S. 126). Der Gedanke, daß ausgerechnet das Porträt des Sokrates nur 'die Idee von einem Philosophen der Antike', ja ein erst Jahrhunderte später in der Imagination geformtes Bild des großen Denkers darstellen soll, ist (auch) angesichts der großen Diskrepanz zwischen dem schon immer als häßlich empfundenen (überlieferten) Bildnis und dem Idealbild, das man sich von Sokrates gemacht hatte, zurückzuweisen.

Auch die Angaben Pointons über die Bildnisse des Augustus halten einer Überprüfung nicht stand. Aus der Tatsache, daß der Kaiser seine Porträts selber in Auftrag gegeben hat, kann nicht geschlossen werden, sie seien so sehr stilisiert bzw. idealisiert, daß sie keine Lebensähnlichkeit besitzen und gänzlich unrealistisch sind. Gerade die Römer sind für ihre realistische Porträtkunst bekannt. Bei Karl Christ (Die Römer. Eine Einführung in ihre Geschichte und Zivilisation, 1979) heißt es dazu:

Schon die spezifischen Formen der Verehrung der Vorfahren durch die römische Aristokratie weckten den Wunsch, die Züge der Individuen unverfälscht festzuhalten. So ist für das römische Porträt häufig ein scharfer Verismus kennzeichnend. Die Bildnisse der großen Vorfahren, die Totenmasken wie die Standbilder und Büsten idealisieren und heroisieren nicht, vielmehr zeigen sie das Individuum in seiner Eigenart, .... Auch Büsten und Statuen beschönigen nicht. Trotz der Stilisierung der augusteischen Klassik überwiegen unter dem Principat Bildnisse von ungewöhnlicher Lebensnähe und Kraft" (S. 153).

Auch wenn die Bildnisse des Augustus leicht stilisiert waren, so war die Ähnlichkeit mit dem Kaiser dennoch gegeben. Pointon beruft sich, um die angeblich große Diskrepanz zwischen den offiziellen Porträts dieses Herrschers und seinem tatsächlichen Äußeren zu demonstrieren, auf den 'Zeitgenossen' Sueton. Sueton aber war kein Zeitgenosse des Augustus. Der römische Imperator starb 14 n. Chr., mehr als ein halbes Jahrhundert vor der Geburt des Sueton um 70 n. Chr. Während dieser Lapsus noch verzeihlich ist, erscheint es jedoch unverzeihlich, daß Pointon - mit Ausnahme der klaren hellen Augen - ausschließlich die negativen Details des verbalen Bildes herausgreift, das Sueton von der äußeren Erscheinung des großen römischen Herrschers gezeichnet hat, und dabei das überaus positive Gesamtbild unterschlägt. Bei Pointon heißt es: "his contemporary Suetonius tells us that the Emperor 'had clear bright eyes [...], few teeth which were small and dirty [...] his hair was yellowish and slightly curley, his eyebrows met and his nose jutted out and then turned inwards. He was [...] rather short [...] on his body were spots, birth marks, and callouses [...]'". Wer Suetons Beschreibung nicht zur Hand hat, kann diese auch unter 'Augustus' in der Encyclopaedia Britannica (1981) nachlesen: "He was unusually handsome and exceedingly graceful at all periods of his life, though he cared nothing for personal adornment. ... He had clear, bright eyes, in which he liked to have it thought that there was a kind of divine power, .... His teeth were wide apart, small and ill-kept; ...".

Wenn es - wie gezeigt wurde - gründlich verfehlt ist, alle Bildnisse des Sokrates und des Augustus als 'Fiktionen' zu etikettieren (Pointon verwendet auch die Termini 'Chiffren', 'Kopfsymbole' oder 'Ideen'), ist es - angesichts des in der Porträtmalerei der Renaissance allenthalben anzutreffenden scharfen Verismus - natürlich erst recht verfehlt und sachlich unhaltbar, auch alle Shakespeare-Porträts ausnahmslos als Konstrukte künstlerischer Phantasie zu diskreditieren und sie mit der zwar griffigen, aber nichtssagenden Formel 'empty frame' oder auch 'cypher effect' zu entwerten.

Das Chandos-Porträt, das Flower-Porträt und die Darmstädter Shakespeare-Totenmaske haben - nach gründlicher Überprüfung der Ausgangsbasis - alle von der Verfasserin seit 1995 durchgeführten Echtheitsprüfungen mit Bravour bestanden. Diese Echtheitsprüfungen waren möglich, weil die Porträts wie auch die Maske in allem - gerade auch in der Wiedergabe krankhafter Symptome in unterschiedlichen Stadien - veristisch gemalt bzw. geformt wurden. Nur deshalb konnten sie sowohl von den Experten des Bundeskriminalamts als auch von den medizinischen Fachgutachtern akzeptiert werden.

Die Druckfassung des Pointon'schen Vortrags unterscheidet sich inhaltlich stark von der mündlich vorgetragenen Fassung. So entfällt im Druck - stillschweigend - der eigentliche, gegenüber der Verfasserin erhobene Hauptvorwurf, daß nämlich das Chandos-Porträt nicht als Vergleichsgrundlage herangezogen werden dürfe, da es erst 1719 erwähnt werde, in der Vergangenheit viele Male ausgebessert worden sei und letztlich nur aus Leinwand und Farbe bestehe. Aufgrund dieser irreführenden Darstellungen hat Andreas Rossmann in seinem Bericht "Nimm das Bild nicht für das Buch" über Pointons Vortrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 07.05.1996 fälschlicherweise das Jahr 1719 als definitives Entstehungsdatum des Chandos-Porträts angegeben und daraus gefolgert: "Nicht die Stimmigkeit ihrer [gemeint ist die Verfasserin] vom Bundeskriminalamt gestützten Forschungen war bestritten, sondern deren Voraussetzungen grundsätzlich in Frage gestellt worden." Dabei konnte Rossmann nicht wissen, daß Pointon - offensichtlich erst nach ihren öffentlichen Präsentationen in Bochum und Köln - nachgelesen hat, daß das Chandos-Porträts ein authentisches Porträt der Shakespeare-Zeit ist ('without doubt a perfectly authentic English portrait of its period' - Roy Strong, Tudor & Jacobean Portraits, I, 1969, S. 279), bei dem bisher nur die Identität des Dargestellten fraglich war. Die Identität der hier abgebildeten Person aber konnte bereits durch Anwendung des ersten BKA-Testverfahrens zur Identitätsfeststellung geklärt werden. Denn es wurden insgesamt siebzehn mit dem Droeshout-Stich und dem Flower-Porträt übereinstimmende Gesichtsmerkmale festgestellt und keine einzige Abweichung.

Leider ist auch der gedruckte Vortrag Pointons noch immer voller sachlicher Fehler. Über das Chandos-Porträt wird uns mitgeteilt: 'first recorded about 1719 but traceable through oral evidence and hearsay back to the actor Thomas Betterton' (S. 36). Diese Aussage ist in sich völlig widersprüchlich. Denn Thomas Betterton (1635-1710) war ein Zeitgenosse des Antiquars George Vertue (1684-1756), der das Bild in seinen Notebooks (1719) erstmals schriftlich erwähnt und dabei die mündlich überlieferte Provenienz angibt, die bis in die Lebenszeit Shakespeares zurückreicht. Betterton war bis zu seinem Tod, also bis 1710, der Besitzer des Chandos-Porträts. Der Schauspieler, den Pointon offensichtlich meint, war entweder der Shakespeare-Darsteller und Amateurmaler Richard Burbage (?1567-1619), Shakespeares enger Freund, oder aber der von Vertue namentlich genannte, bisher aber nicht überzeugend identifizierte Schauspieler und Maler John Taylor, der gleichfalls ein Freund Shakespeares gewesen sein soll. Beide kommen als Maler des Chandos-Bildnisses in Betracht. Folgt man Pointon, so ist es Mary Edmond gelungen, Taylor zu identifizieren. Er soll ein führendes Mitglied der 'Painter-Stainers Company' und zur Zeit Shakespeares in den Dreißigern gewesen sein. Der Kunsthistorikerin fällt indessen nicht auf, daß sie, indem sie Edmonds Identifizierung des Malers akzeptiert, zugleich auch akzeptiert, was sie zuvor als zweifelhaft verstanden wissen wollte: daß nämlich das Chandos-Porträt ein zur Zeit Shakespeares entstandenes Gemälde ist.

Das Chandos-Porträt weist im linken Augenbereich dieselben Krankheitserscheinungen auf wie das Flower-Porträt, allerdings in einem früheren Stadium. Aufgrund dieser realistisch wiedergegebenen und medizinisch diagnostizierbaren pathologischen Symptome, die auf dem Droeshout-Stich (1623) entweder ganz fehlen oder weniger drastisch wiedergegeben werden, konnte auch die bisher angenommene Reihenfolge, daß das Flower-Porträt zeitlich nach dem Stich entstanden sei, als unhaltbar widerlegt werden. Es steht nun fest, daß das Gemälde dem Stich als Vorlage gedient hat und nicht umgekehrt.

Das eindrucksvolle und aufwendig restaurierte Flower-Porträt, dessen Inschrift uns sowohl den Namen des Porträtierten (William Shakespeare) als auch das Entstehungsdatum (1609) nennt, wird von Pointon erstaunlicherweise an keiner Stelle erwähnt. Dies hängt vielleicht damit zusammen, daß - drei Tage vor dem mündlichen Vortrag in Bochum - in der Times vom 24.04.1996 der gut recherchierte Artikel des Deutschland-Korrespondenten Roger Boyes erschienen war, in dem auch über einen weiteren (in Verbindung mit den Ergebnissen des Jahres 1995 geführten) Echtheitsnachweis für das Flower-Porträt und die Totenmaske berichtet wurde und der Abbildungen enthielt, die das auf beiden Bildnissen übereinstimmend dargestellte, entscheidende Krankheitssymptom auf der Stirn sehr deutlich zeigten. Wurde das Flower-Porträt verschwiegen, weil gerade der zusätzliche Echtheitsnachsweis auf der Basis eines weiteren auffälligen, heute diagnostizierbaren Krankheitsmerkmals, das der Maler nicht erfinden konnte, sondern am lebenden Modell gesehen haben muß, Pointons Ausgangsthese "There are no portraits of Shakespeare produced in his lifetime" besonders anschaulich widerlegte?

Die in der Kirche von Stratford befindliche Grabbüste Shakespeares sei - so Pointon in ihrem Vortrag - im Jahre 1623 errichtet worden. Rossmann protokolliert auch diese unzutreffende Datierung. Die Referentin beging jedoch den Fehler, das Jahr der ersten Erwähnung des Monuments (in der Folio-Ausgabe von 1623) mit dem Jahr seiner Entstehung und Errichtung gleichzusetzen. Das ist unrichtig und unzulässig. Es war bei Werken dieser Art im allgemeinen üblich, dem Bildhauer für die Fertigstellung eine Jahresfrist zu setzen. Auch hätte sich wohl keine gewinnorientierte Bildhauer-Werkstatt des Zeitalters für die Ausführung dieses vergleichsweise schlichten Denkmals sieben Jahre lang Zeit gelassen, ganz davon abgesehen, daß Shakespeares Witwe - sie starb 1623 - und seine als klug und resolut bekannte Tochter Susanna wohl kaum so viele Jahre auf die Grabbüste gewartet hätten. Shakespeares Stratforder Mitbürger, der reiche Wucherer John Combe, der 1614 starb, hatte vorsorglich testamentarisch verfügt, daß seine Grabskulptur binnen eines Jahres fertiggestellt werden müsse. Wenn die Familie des Dichters sich zwei Jahre später für dieselbe Bildhauerwerkstatt entschied, so hatte diese offensichtlich rasch und zufriedenstellend gearbeitet. Im übrigen war in Stratford ab 1619 der übereifrige puritanische Geistliche, Vicar Thomas Wilson, im Amt. Er hielt die Stadt praktisch 'schauspielerfrei'. Ob der Zelot Wilson der Aufstellung der bunt bemalten Büste des großen englischen Dramatikers, der den Puritanern - wie wir wissen - verhaßt war, zugestimmt hätte, darf stark bezweifelt werden. In Pointons Druckfassung wird die Datierung der Büste leicht korrigiert. Nun heißt es: 'ca. 1623'. Das aber verschlimmert die Sache, weil damit eine noch spätere Fertigstellung in den Bereich des Möglichen rückt, die angesichts der zunehmenden religiösen Auseinandersetzungen - gerade auch in Stratford - gänzlich undenkbar ist.

Völlig unhaltbar sind die unqualifizierten Äußerungen Marcia Pointons über Totenmasken im allgemeinen und die Darmstädter Shakespeare-Totenmaske im besonderen, von der sie auf der Shakespeare-Tagung ein vor rund 85 Jahren publiziertes Foto präsentierte. Ihre Meinung, eine Totenmaske sei kein Porträt eines Menschen, steht in krassem Widerspruch zu den Darlegungen aller Experten in Vergangenheit und Gegenwart. Zu verweisen ist hier beispielsweise auf den Katalog The Funeral Effigies of Westminster Abbey, eds. Canon Anthony Harvey, Sub-Dean of Westminster, und Richard Mortimer, Keeper of the Muniments, Westminster Abbey, 1994). Mit Bedauern stellt Phillip Lindley in dem von ihm verfaßten Kapitel "James I" fest, daß der Effigie-Kopf Jakobs I., der nach einer Totenmaske geformt worden sei, nicht mehr existiere, und führt aus: "[it] would have provided a portrait whose verisimilitude would be unchallenged" (S. 71). Die erschreckende Realistik des Grabmonuments Elisabeths I. - hier ein Ausschnitt von Gesicht und Hals der Monarchin - zeigt, daß selbst bei der Königin offensichtlich keinerlei 'verschönernde' Veränderungen vorgenommen wurden, so wie sie Marcia Pointon fälschlicherweise allen unterstellt, die Totenmasken abgenommen haben oder abnehmen. Die Werkstatt Gheerart Janssens in Southwark, in der Shakespeares Büste geformt wurde, war schon in den 90er Jahren des 16. Jahrhunderts in aristokratischen und bürgerlichen Kreisen deshalb besonders begehrt, weil sie anbot, exakte Porträts der Toten ("'exact portraitures' of the dead") zu liefern (K. Esdaile, English Church Monuments, 1510 to 1840, 1946, S. 48). Weitere Experten-Meinungen finden sich in dem Zwischenkapitel 'Zur Rolle der Totenmaske in der Porträtplastik der Renaissance' des oben erwähnten Anglistik-Artikels der Verfasserin. Es ist schade, daß Marcia Pointon auch diese Publikation nicht kannte (ebensowenig wie den im Shakespeare-Jahrbuch 1996 abgedruckten Darmstädter Vortrag der Verfasserin mit der logischen Beweiskette). Denn dort wurde der von Pointon praktisch wiederholte Haupteinwand von Stanley Wells (siehe Mitteilung von Professor Wells an die Verfasserin vom 30.11.1995), daß es in England in der fraglichen Zeit keine Totenmaske für Bürgerliche gegeben habe, bereits - mit Beispielen - widerlegt. Pointon vertritt nach wie vor die Fehlmeinung: 'Only royalty or nobility were accorded this honour at this period' (S. 47). Professor Wells' Einwand hat die Verfasserin zu höchst interessanten Recherchen veranlaßt, die zeigen, daß sich die neuen Ergebnisse überzeugend und stimmig in die übergreifenden kulturgeschichtlichen Zusammenhänge einfügen.

Ärgerlich und zugleich peinlich ist, daß die englische Kunsthistorikerin auch noch in der veröffentlichten Version ihres Vortrags behauptet, Untersuchungen bezüglich der Identität der Darmstädter Shakespeare-Totenmaske seien in England bereits seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts durchgeführt worden und dabei ausdrücklich auf die Autoren Boaden (1824) und Wivell (1827) verweist. Da die Maske - wie wir wissen - aber erst 1849 in Mainz aufgefunden wurde, konnten sich Boaden und Wivell in ihren Publikationen der Jahre 1824 und 1827 wohl kaum über sie geäußert haben. Die Experten waren jedoch der Ansicht, die Büste müsse nach einer Maske entstanden sein. So stand für den englischen Bildhauer George Bullock, der 1814 einen viel bewunderten Abguß von der Büste vornahm, fest: "it [the bust] is evidently taken from a cast after nature".

Die Verfasserin bedauert, daß es - trotz ihrer nachweislichen Bemühungen - bisher zu keinerlei Gedankenaustausch mit Professor Pointon gekommen ist, so daß die erforderlichen sachlichen Richtigstellungen in der hier vorliegenden Form vorgenommen werden müssen.

Retrospektiv betrachtet, scheint sich - zumindest ansatzweise - das ereignet zu haben, was Dietrich Schwanitz in seinem eingangs erwähnten Beitrag "Shakespeares Auge" unter Heranziehung religionssprachlicher Termini als eine Art Schreckens-Szenario ausgemalt hat: Die neuen Ergebnisse würden "Bannflüche, Verwünschungen und Exkommunikationen" nach sich ziehen. Man müsse mit einer "Kirchenspaltung", ja mit einem neuen "Glaubensbekenntnis" rechnen. Auch Roger Boyes kündigte am Vorabend der Bochumer Shakespeare-Tage 1996 in der Times an: "Stand by for an academic rumpus: the war of Shakespeare's eye" (24.04.1996). Was Schwanitz und Boyes registrierten, waren emotional überhitzte Reaktionen auf einen vermeintlichen Bildersturm, vor dem man den HEROS BRITANNICUS, William Shakespeare, schützen zu müssen glaubte. In Wirklichkeit aber waren lediglich drei bereits bekannte und von den bisherigen 'Autoritäten' mit dem Etikett 'unecht' versehene Bildnisse des großen Dichters erneut auf ihre Echtheit hin überprüft worden - und zwar nach gründlicher Überprüfung der Ausgangsbasis und durch Anwendung von Methoden, die den strengen naturwissenschaftlichen Kriterien des Beobachtens, Messens und Vergleichens genügen. Doch die positiven Ergebnisse, die selbst die an den Forschungen beteiligten Experten überrascht haben, schienen anfangs eher unerwünscht zu sein. Auf jeden Fall aber waren sie unbequem. Denn sie widerlegten Autoritäten und zerstörten einen Mythos, an dessen Festigung und Fortbestand gerade unser Jahrhundert besonders eifrig mitgewirkt hat, den Mythos nämlich, daß uns Shakespeares Aussehen - ähnlich dem einer Gottheit - für immer verborgen bleiben müsse.

Die inzwischen mehrfach bestätigten und sich gegenseitig bestätigenden Echtheitsnachweise aus den Jahren 1995, 1996 und 1997 sind im modernen naturwissenschaftlichen Sinne falsifizierbar und verifizierbar und werden in dieser Eigenschaft zur Diskussion gestellt. Sie können nicht dadurch widerlegt werden, daß man Fakten mißachtet, selektiv und sinnentstellend zitiert und kritiklos Meinungen von Autoritäten übernimmt.”

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